In unserer Straße gibt es einen Nachbarn – nein vielmehr einen Freund, mit dem ich mich immer wieder mal über das Gartentor hinweg oder wenn wir uns zufällig mal in der S-Bahn begegnen, was allerdings nicht allzu häufig vorkommt, weil ich S-Bahn-Fahren hasse, über das Lesen und Schreiben unterhalte. Das sind durchwegs gute und bereichernde Gespräche. Kein belangloser Smalltalk, bei dem ich mich fünfsekündlich frage, wie ich am schnellsten aus der Nummer wieder rauskomme.
Eben dieser Herr hat mir schon vor einigen Monaten den Trafikanten in die Hand und ans Herz gelegt. Als jemand, der großspurig behauptet, nicht nur Menschen grundsätzlich nach dem Inhalt und nicht nach der Verpackung zu beurteilen, bin ich nicht stolz darauf, zugeben zu müssen, dass mich die doch sehr nüchterne Aufmachung und die spartanische Inhaltsangabe auf dem Buchrücken und im Klappentext schon etwas abgeschreckt haben. Das Büchlein wanderte folglich zunächst ins Regal.
Der Zufall wollte es aber, dass ich gerade auf der als äußerst oberflächlich verschrieenen Plattform Instagram über eine sehr positive Kurzrezension zum Trafikanten gestoßen bin und da hab ich dann einfach angefangen und erst wieder aufgehört, als ich ich den letzten Satz gelesen hatte. Bei mir will das schon etwas heißen, denn tatsächlich beende ich nur noch wenige Bücher. Früher war ich wesentlich toleranter, wenn mich ein Buch zwischendurch aufgrund von Längen, einem verworrenen Plot oder bescheuerter Charaktere genervt hat, aber da war ich halt auch jünger. Inzwischen sehe ich es als Zeitverschwendung an, mich durch nichtssagendes Blabla zu quälen.
„Der Trafikant“ ist da zum Glück ein anderes Kaliber.
Grob gesagt begleiten wir in dieser Geschichte den siebzehnjährigen Franz, der im Jahr 1937 seine Heimat, das idyllische Salzkammergut, verlässt, um bei einem Bekannten seiner Mutter eine Lehre als Trafikant anzutreten. Er lernt dort Sigmund Freud und die Liebe in Gestalt einer sinneslustigen Böhmin kennen. Zudem wird er mit den ersten Anzeichen des Holocausts konfrontiert, was aber in der knappen Inhaltsangabe nicht weiter thematisiert wird.
Es ist zu bezweifeln, dass Wien, die Vorkriegszeit oder die raren Auftritte Freuds für die meisten Leser Lockmittel genug sind. Ich persönlich schätze Freud zwar, habe aber auch meine Probleme mit ihm. So z.B. mit seiner Penisneid-Hypothese und seiner Einschätzung klitotaler Orgasmen. Ich mag Penisse, aber ich beneide die Männer nicht darum, dass sie einen haben. Ich bin sehr gerne Frau. Und ich glaube auch nicht, dass Frauen, die vor allem klitoral zum Orgasmus kommen, unreif oder sogar geisteskrank sind. Erstaunlich ist, dass Freud seinen Töchtern näher stand als seinen Söhnen – auch was den geistigen Austausch anbetrifft. Eine seiner Töchter, die Anna, spielt in dieser Geschichte übrigens eine Nebenrolle. (Die beiden o.g. Theorien Freuds aber zum Glück nicht.) Eine Zusammenfassung ist aber tatsächlich schwer. Vielleicht ist die Inhaltsangabe auf und im Buch auch deshalb so mager ausgefallen.
Im Grunde passiert nichts und zugleich alles. Auf der einen Seite verwendet Seethaler respektive Franz viel Zeit und Muse darauf, die kleinen Dinge des Alltags zu beschreiben. Allerdings aus einer sehr erfrischenden, teils philosophischen und vor allem lebensbejahenden Sicht. Auf der anderen Seite geht es um so große Themen wie Liebe, Verrat, Courage, Verlust und Tod.
Was mich vor allem an dem Buch fasziniert, ist die echte Wortkunst, die in Form einer regelrechten Bilderflut und wunderbar originellen, liebe- und humorvollen Sprachkompositionen daherkommt.
Ich hoffe, dass mir die Zitation folgender, für den Handlungsverlauf nicht allzu bedeutsamer, aber nahezu spektakulär inszenierten Textstellen rechtlich gestattet ist:
„Jeden Morgen, schon vor der Ladenöffnung, trat er im Schlafanzug und mit wirrer Bettfrisur auf die Straße hinaus und klebte einen frisch geträumten Traum an die nachtkühle Auslagenscheibe.“
„In diesem Moment wurde ihr Blick fast gleichzeitig nach oben gelenkt, wo sich direkt über der Couch ein Weberknecht seinen Weg über die Zimmerdecke zitterte. In einem weiten Bogen tänzelte er in eine Ecke, blieb stehen, wippte noch ein bisschen aus und rührte sich nicht mehr.“
Lange Rede, kurzer Sinn: Wenn ihr es nicht ohnehin schon getan habt – lest dieses Buch!
(Der Zentangle-Hintergrund hat übrigens nichts mit dem Buch zu schaffen. Mir und den Kindern war gestern einfach mal wieder nach ein wenig Doodlen zumute.)
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