(Da diese Kurzgeschichte ein Vierteiler ist, muss ich mich beeilen mit dem Einstellen. Schließlich beginnt am Sonntag die stade Zeit und in meiner Geschichte geben ja nicht mal die Toten Ruhe. Da es sich hier um einen familienaffinen Blog handelt, wären spätestens ab dem ersten Advent eher weihnachtliche Erzählungen angebracht.)
PS: bezüglich des Weiterlesen-Tags wisst ihr ja jetzt Bescheid.)
~♱ Gothic Girl (Teil 2) ♱~
„Füße runter vom Armaturenbrett!“, keifte Sabine ihren Sohn an, obwohl sie wusste, dass ihr Verhalten unfair und, etwaige Sicherheitsbedenken einmal außen vor, ziemlich unangemessen war. Zum einen genoss sie es selbst, ihre Beine hochlegen zu können, wenn sie mal die Rolle der Beifahrerin innehatte – was leider schon ewig nicht mehr vorgekommen war. Und zum anderen verdiente es Max völlig unabhängig von diesem fadenscheinigen Anlass nicht, dass sie ihren ganzen Frust an ihm abließ.
Eigentlich brauchte sie sich nicht darüber wundern, dass er zu so einem ungehobelten Stinkstiefel mutiert war. Der Fünfzehnjährige war einfach nur der perfekte Spiegel seiner Mutter.
Davon ab hatte er sie sowieso nicht gehört. Dank der harten Metalklänge, die aus seinen InEars drangen und die aufgrund ihrer nerven- und trommelfellzerfetzenden Lautstärke auch für Sabine deutlich vernehmbar waren und so etwas Antiquiertes wie ein Autoradio völlig überflüssig machten. Doch trotz dieses positiven Aspekts war das Smartphonekonzert, welches mit Sabines eigenem Musikgeschmack nur bedingt konform ging, Gift für ihre Kopfschmerzen, die sie nun wieder seit einer guten Stunde malträtierten. Und von Minute zu Minute wurden sie unerträglicher.
„Ist doch alles Scheiße!“, murmelte sie und trommelte mit den Fingerspitzen entnervt auf dem Lenkrad herum. Wohl in der aberwitzigen Hoffnung, damit das Gehämmere in ihrem Schädelinneren und das Gewummere aus Max’s Kopfhörern zu übertönen.
Sie hatte bereits 1.200mg Ibuprofen intus. Und der Tag war noch jung. Eigentlich sollte sie sich die verbleibenden Tabletten einteilen. Nicht nur, weil sich schon jetzt ein flaues Gefühl in ihrem Magen breitmachte – eine bekannte Nebenwirkung dieses Schmerzpräparats.
Aber sie hielt es einfach nicht mehr aus.
Ein wenig unsanft zog sie ihrem Sohn den Stöpsel aus dem linken Ohr.
„Was ist?“, murrte er nicht gerade entgegenkommend.
Oh ja, sie waren schon ein echtes Dreamteam.
„Kannst du bitte deine Mucke um ein paar Dezibel runterdrehen und mir meine Tabletten aus dem Handschuhfach holen? Da hast du gerade deine Füße drauf geparkt. Bitte. Danke.“
„Geht klar“, sagte er und nahm tatsächlich die Beine von der Ablage. Er war sogar so umsichtig, die Ibu aus dem Blister zu pulen und Sabine seine Wasserflasche anzubieten, die er neben sich im Seitenfach verstaut hatte. Völlig perplex angesichts dieser Gentlemanallüren sah Sabine großzügig darüber hinweg, dass Max seine Musik nicht wirklich leiser stellte. Alles schien sie in Sachen Erziehung wohl doch nicht verkehrt gemacht zu haben.
Zum Glück dauerte es nicht lange, bis das Medikament Wirkung zeigte, auch wenn diese voraussichtlich nicht ewig anhalten würde. Aber vielleicht zumindest solange, bis sie sie diese Nebelwand hinter sich gelassen hatten.
Während Sabine angestrengt durch die Gläser ihrer Brille, die sie glücklicherweise nur zum Autofahren benötigte und durch die Windschutzscheibe in die wabernden, grauen Schwaden starrte, die leider eher dichter statt lichter wurden, wanderten ihre Gedanken wieder zurück zu dem Mädchen aus dem Traum.
Wäre das hier ein Film, würde es sich bei dieser punkigen Gruselpuppe garantiert um irgendein Mobbingopfer handeln, das nun, nach seinem gewaltsam herbeigeführten Ableben, Rache an seinen Peinigern übte. Aber einerseits war Sabine gar nicht sicher, dass das Mädchen wirklich tot war und andererseits war sie in ihrer Jugend selbst diejenige gewesen, die von hippen Cliquen-Girlies bis über die Schmerzgrenze hinaus gemobbt wurde. Abgesehen von den üblichen Bitch Fights unter Mädchen konnte sie sich nicht daran erinnern, ein anderes Mädchen auch nur gepiesackt zu haben. Eher hatte sie sich mit den „Ausgestoßenen“ solidarisiert.
„Mensch, Mama, pass doch auf!“ Max griff ihr hektisch ins Lenkrad. Dass er gar so kieksig klang, lag offensichtlich nicht nur daran, dass er sich im Stimmbruch befand. Sie waren gerade haarscharf an der Leitplanke vorbeigeschrammt.
Sabine fiepte erschrocken.
„Was ist los mit dir? Sekundenschlaf?“, fragte Max. Er musterte seine Mutter besorgt und für einen Moment kam sie sich vor, als sei sie das Kind und er der Erwachsene.
„Nein, nur der blöde Nebel. Ist alles so verschwommen.“
„Und du bist total benommen“, erwiderte Max und lachte kurz über sein Wortspiel. Aber er sah nicht wirklich amüsiert aus. Eher so, als würde er darüber nachdenken, ob seine Mutter noch alle Tassen im Schrank hatte. „Wir sind doch schon längst raus aus dem Nebel. … Ok, die Windschutzscheibe ist etwas beschlagen. Meinst du das mit ‚verschwommen‘?“ Er löste zögerlich seine Hand vom Steuer und wischte mit dem Saum seines Sweatshirts über das Glas. „Wird echt Zeit, dass ich den Führerschein mache.“
Leider mussten er und Sabine sich da noch ein paar Jährchen gedulden, auch wenn sie Max auf den Feldwegen am Ortsrand schon seit mehreren Monaten Fahrunterricht gab. Die Bauern juckte das nicht groß. Deren Sprösslinge heizten schon mit Dreizehn auf dem Quad oder dem Traktor durch die Gegend.
„Ja, ich kann’s auch kaum erwarten, selbst wieder die Beine hochzulegen“, erwiderte Sabine und Max grinste. Scheinbar ging er davon aus, dass Sabine wieder die Alte war.
Doch Max bot sich hinter der inzwischen blitzblanken Windschutzscheibe offensichtlich eine andere Welt als ihr. Sie konnte in der Nebelsuppe gerade so die Fahrbahnbegrenzung und ungefähr fünf Meter vom Mittelstreifen erkennen. Aber das sagte sie Max lieber nicht. Was würde es schon bringen, wenn sie ihn erneut beunruhigte? Hier, auf der Autobahn konnte sie ihn kaum ans Steuer lassen und sie hatten es ja auch nicht mehr weit. Gesetzt den Fall, diese Straße würde sie wirklich zum Friedhof führen und nicht geradewegs in die Hölle. Irgendwie war es schon höchst eigenartig, dass sich ihre Wahrnehmung gerade so sehr von der ihres Sohnes unterschied.
Sie schüttelte sich kurz, in der Hoffnung, damit die klammen Finger, mit denen die aufkeimende Panik tückisch langsam ihren Rücken emporkroch, loszuwerden. Max stöpselte derweilen wieder seine Kopfhörer in die Ohren. Sabine hätte nie gedacht, dass Heavy Metal sie beruhigen könnte. Aber tatsächlich erdeten sie die harten Beats. Sie vermittelten ihr ein Gefühl von Normalität und Geborgenheit.
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