Wasserwald – an der Pforte zur Zwischenwelt
Benommen stolpert sie der Zeitenwandlerin hinterher. Amalias schlanke, kühle Finger umklammern noch immer Priskas Hand. Zielstrebig lotst die junge Frau sie durch das Gehölz. Hin und wieder erhellen einzelne Sonnenstrahlen den dunklen Tann und lassen Amalias rotgoldene Locken aufleuchten. Der Saum ihres abgetragenen Schürzenkleides, das mehr einem Flickenteppich gleicht als einem Gewand, streift den Waldboden. Denselben weichen, mit Nadeln und Laub bedeckten Grund, welchen Priska bereits unzählige Male zuvor überquert hat. ›Nein‹, korrigiert sie sich. ›Nicht vorher. Sondern mehr als hundert Jahre später.‹ Für einen Menschen eine gewaltige Zeitspanne, aus Sicht der Natur dagegen nicht einmal ein Wimpernschlag. Das Gelände wird felsiger und der Pfad verliert sich in einem steinernen Labyrinth. Jetzt müssen sie klettern und Amalia ist gezwungen, Priskas Hand los zu lassen.
»Bleib dicht bei mir«, flüstert ihr das rothaarige Mädchen beschwörend zu, bevor sie sich daran macht, den Felsbrocken vor ihnen zu erklimmen. Unter ihrem langen Rock trägt Amalia derbe Wanderschuhe. Noch ein Beweis dafür, dass Priska nicht schläft. Solch ein kurioses Detail würde ihr tatsächlich nicht im Traum einfallen. Als sie ihre Finger in den rauen Fels krallt und sich keuchend emporzieht, wird sie erneut an ihre eigene Vergänglichkeit erinnert. Diese Gesteinsbrocken werden auch dann noch hier sein, wenn nicht nur Priskas Knochen, sondern auch die ihrer Nachfahren, längst zu Staub zerfallen sind. Und selbst in ferner Zukunft würde man genau hinsehen müssen, um die feinen Spuren der Verwitterung zu erkennen, die ein bereits Jahrmillionen andauernder Prozess hervorgerufen hat.
»Wo willst du hin?«, ruft Priska ihrer Begleiterin leise zu. Sie fühlt sich wie in einem düsteren Märchen. Unweigerlich fragt sie sich, ob die böse Hexe ihnen bereits auf den Fersen ist.
»Wir müssen dich schnellstmöglich wieder in deine Zeit und nach Hause zu Andreas bringen«, erwidert Amalia. Sie macht einen gehetzten Eindruck, blickt sich aber nicht um.
»Verfolgt sie uns?«, hakt Priska unbeirrt nach.
»Nicht so, wie du denkst«, lautet Amalias rätselhafte Antwort. »Aber ja. Sie wird versuchen, uns aufzuhalten. Das gefährlichste Stück des Weges liegt allerdings noch vor uns.« Priska blickt den Hang hinauf. Noch sind sie nicht an der Baumgrenze angelangt. Vor langer Zeit war an dieser Stelle eine Gerölllawine abgegangen und hatte eine Schneise in den Wald geschlagen. Doch ein Stück weiter oben endet die steinerne Wüste. Wie dunkle Soldaten reihen sich dort die hohen Fichten dicht an dicht. Zusammen bilden sie eine schwarzgrüne Mauer. Stolz recken sie ihre Wipfel in den blauen Himmel. Trotz des idyllischen Anblicks beschleicht Priska ein ungutes Gefühl.
Inzwischen sind sie an einer seltsam anmutenden Gesteinsformation angelangt. Anders als die übrigen Felsbrocken, die wild versprengt im weiß-grauen Schutt liegen, scheinen sich die beiden schroffen Türme, die sich vor ihnen erheben, nicht zufällig an diesem Ort zu befinden. Sie sind jeweils mindestens drei Meter hoch. Dort, wo sie aufeinandertreffen, befindet sich ein schmaler Spalt. Durch den jedoch nicht einmal eine flache Hand passt.
»Und jetzt?« Priskas Blick wandert ratlos von Amalia zu den steinernen Gebilden und wieder zurück. »Ich nehme an, wir können nicht einfach um diese Felsen herum laufen?«
»Nein. Es sei denn, du möchtest im Jahr 1874 bleiben«, antwortet Amalia prompt. Sie deutet nach oben: »Da müssen wir hinauf.« Der eine Gesteinsbrocken verfügt auf halber Höhe über eine Art Balkon, welcher gute anderthalb Meter nach außen ragt. Dunkelgrünes Moos bedeckt das Plateau und die Wurzeln einer knorrigen Fichte umschlingen die massive Felsplatte. Flink wie ein Wiesel klettert Amalia an der furchigen Wand empor. Wenige Sekunden später steht sie bereits auf dem grünen Moosteppich und streckt Priska ihre Hand entgegen. Doch sie ist noch zu weit entfernt. Priskas Finger suchen Halt in den gleichen Kerben, mit deren Hilfe Amalia den kantigen Stein zuvor erklommen hat. Als sie die kühle Oberfläche berührt, hat sie das Gefühl, der Fels sei lebendig. Unter ihren Fingerspitzen spürt sie eine leichte Vibration. Und ihr Blut pulsiert mit einem Mal im Rhythmus dumpfer Trommelschläge. Beherzt greift Priska nach den kräftigen Fichtenwurzeln, die sich neben ihr um das zerklüftete Gestein ranken.
»Nicht!«, ruft Amalia entsetzt, doch da ist es schon zu spät. Die knorrigen Auswüchse lösen sich von den Felskanten und werden zu geschmeidigen Tentakeln, die sich in Windeseile um Priskas Handgelenke und Arme wickeln und sie vom Fels ziehen. Binnen weniger Augenblicke ist Priskas Oberkörper völlig bewegungsunfähig und ihre Beine schlenkern hilflos in der Luft.
»Amalia, was soll ich tun?« Priska blickt verzweifelt zu dem rothaarigen Mädchen empor. »Bitte hilf mir!« Doch die junge Frau schlägt nur die Hände vor’s Gesicht.
»Es tut mir so leid, Priska. Ich habe völlig vergessen, dich über dieses Monstrum aufzuklären. Auf dem Hinweg hast du dich instinktiv in Acht genommen. Deshalb hatte ich gedacht, dass du es weißt.«
»Was?« Priska merkt, wie ihr die hölzernen Fesseln, die nun auch ihren Brustkorb umschließen, langsam, aber sicher die Luft abschnüren. »Ich kann mich nicht erinnern, wie ich hierher gelangt bin. Du hast selbst gesagt, dass du mich hypnotisieren musstest.« Zu ihrer Panik gesellt sich nun noch ein anderes Gefühl. Zorn. Sie ist wütend auf sich selbst, weil sie sich wieder einmal komplett ohnmächtig fühlt, wütend auf Amalia, weil das Mädchen sie ohne ihr Wissen in diese Situation manövriert hat und wütend auf diesen vermaledeiten Baum, der in Wirklichkeit keiner ist.
»Dass du den Hüter nicht wecken darfst.« Amalia lässt die Hände fallen. In ihren Augen schimmern Tränen und Priskas Ärger verfliegt. Stattdessen überwiegt nun erneut die Angst. Sie muss sich konzentrieren, um Amalias heiseres Flüstern zu verstehen: »Lebende haben in der Zwischenwelt nichts zu suchen.«
»Und nun? Wird der Baum mich auffressen?« Obwohl ihre Lage auswegslos erscheint, kann Priska sich ihren Zynismus nicht verkneifen. Wie zur Bestätigung ziehen die Flechten sie weiter nach oben und näher an den borkigen und für eine Fichte erstaunlich wuchtigen Stamm heran. Nun wird sich Priska auch des kopfgroßen Astlochs gewahr, das sich hinter dem dichten, grünen Geäst verbirgt. Es sieht aus wie ein riesiges Auge, umrandet von wulstigen Lidern.
»Nein, er wird dich versteinern.« Amalias Stimme ist nurmehr ein Flüstern. Und sie scheint viel weiter entfernt zu sein als nur ein paar Meter. »Du muss dich selbst befreien, Priska. Wenn du die bist, für die ich dich halte, wirst du es schaffen.« Priska weiß, dass es keinen Sinn macht, das verstörte Mädchen zu fragen, wie in drei Teufels Namen, sie das anstellen soll. Und sie wundert sich, dass ihr plötzlich ein Fluch nach dem anderen in den Sinn kommt. Mehr denn je drängt es sie, zu erfahren, wer sie ist, doch offenbar besitzt ja niemand die Güte, sie darüber aufzuklären. Sie hört, wie ein bitteres Lachen ihrer Kehle entweicht. Kurz halluziniert sie, das Baumauge würde überrascht zwinkern. Sie denkt daran, wie sie die Tür zur Terrasse geöffnet und wie sie am vergangenen Tag Marlene erledigt hat. Alles nur mittels der Kraft ihrer Gedanken.
»Wenn du mich nicht aus deinen Fängen und passieren lässt, mache ich Brennholz aus dir!«, zischt sie dem unheimlichen Astloch zu. Nein, das ist keine Sinnestäuschung. Die runzlige Haut um die schwarze Pupille zieht sich zusammen und der überdimensionale Augapfel weicht für einen Moment in seine dunkle Höhle zurück. Nur, um sich kurz darauf regelrecht aus dem Stamm herauszudrücken. Der uralte Baum bebt und aus dem Inneren dringt ein bedrohliches Grollen. Priska merkt, wie sich die Fesseln noch enger um ihren Leib schlingen. Ihr wird schwindelig und schwarz vor Augen. Röchelnd schnappt sie nach Luft, ist jedoch unfähig, den Sauerstoff in ihre Lungen zu pumpen. So muss es sich anfühlen, zu ersticken. Ein wahrhaft schrecklicher Tod. Am Rande ihres Bewusstseins nimmt Priska wahr, wie spitze Wurzelenden sich, scharfen Klingen gleich, in ihr Fleisch bohren. Doch sie spürt keinen Schmerz. Noch nicht. Das Adrenalin rauscht in ihren Adern und ein Schutzschild aus körpereigenen Opioiden sorgt dafür, dass sie bei Verstand und handlungsfähig bleibt.
»Du musst dich beeilen, Priska!«, drängt Amalia. Vermutlich schreit sie, doch bei Priska kommt nach wie vor nur ein Wispern an. Ein dolchförmiger, dürrer Zweig steuert direkt auf ihr rechtes Auge zu. Reflexartig versucht Priska, sich mit einem heftigen Ruck aus ihren Fesseln zu lösen, doch sie hat keine Chance. Sie weiß, dass sie sich darauf konzentrieren muss, ihre panisch herumwirbelnden Gedanken einzufangen und zu bündeln. Aber ihre Angst blockiert sie. Verzweifelt stellt sie sich vor, wie der Baum in Flammen aufgeht. Wie die Wurzel- und Astenden sich dunkel verfärben und die schwarze Asche auf sie niederregnet. Doch das Bild ist nicht stark genug und Priska selbst zu wenig davon überzeugt. Der scharfe Dorn ist nur noch wenige Millimeter von ihrer Netzhaut entfernt. Und Priska fragt sich, warum er nicht einfach nach vorne schnellt und kurzen Prozess macht. Vermutlich ist sie als eine Einäugige keine Zier mehr in der Sammlung aus versteinerten Irrgeleiteten. Sie schließt die Augen. Weniger zum Schutz – ihre Lider würden die Wurzel mit Sicherheit nicht aufhalten, sondern vielmehr, um all das Furchterregende, das sie lähmt, auszublenden. Kaum umfängt sie die Dunkelheit, kann sie spüren, wie ihre Gedanken sich zu dem machtvollen Heer vereinen, mit dessen Hilfe sie den Baumdämon bezwingen wird. Woher ihre plötzliche Zuversicht stammt, kann sie sich selbst nicht erklären. Ein Fleck erscheint am Rande ihres geistigen Sichtfeldes. Sie steuert direkt auf ihn zu. Es dauert nicht lange und der kreisförmige Klecks verwandelt sich. Nun sind die borkigen Ränder und die rissige Iris, aus deren Mitte Priska die tiefschwarze Pupille bedrohlich entgegen stiert, deutlich zu erkennen. Doch wo ist der Rest der Kreatur? Ist der Widersacher identisch mit dem Baum oder befindet er sich in seinem Inneren? Ist das Auge wirklich ein Auge?
Priska stellt sich vor, dass es keine runzlige Netzhaut ist, die da vor ihr vibriert, sondern die Wasseroberfläche eines schwarzen Sees. Und diesmal gelingt die Autosuggestion. Der dunkle Kreis, der ehemals ein Astloch war, wird heller. Er neigt sich und wechselt langsam von der Senkrechten in die Horizontale. Zu Priskas Füßen erstreckt sich nun ein nachtblaues Gewässer und mit einem beherzten Kopfsprung taucht sie hinein. Sobald sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt haben, wird sie sich der unzähligen Wurzeln gewahr, die sich rundherum aus der Tiefe bis an die Oberfläche ranken. Graue Schatten schweben zwischen den knorrigen Auswüchsen. Doch es sind keine Fische. Priska läuft ein kalter Schauer über den Rücken, als sie in die verschwommenen, menschlichen Gesichter und die aufgerissenen, zahnlosen Münder blickt. Und sie merkt, wie die Hoffnungslosigkeit dieser gefangenen Seelen droht, auf sie überzugreifen und ihre Zuversicht zu verdrängen. Rasch wendet sie sich ab und setzt ihren Weg zum Grund dieses alptraumhaften Tümpels fort. Ihre Intuition sagt ihr, dass sie dort auf den Herrscher über diese bizarre Welt trifft. Dass sie dieses Szenario, zumindest zu einem gewissen Anteil, selbst erschaffen hat, verdrängt sie besser. Es ist gleichgültig, in welcher Gestalt der Dämon ihr erscheint. Wichtig ist nur, dass sie ihn besiegt. Abgesehen von den nebelhaften Geisterwesen, die neben ihr durch das Wasser gleiten, gibt es kein Leben in diesem Tümpel. Kurz durchzuckt sie die Erinnerung an den Antermoiasee, in dem die schöne Wasserdämonin haust. Doch dieses Gewässer hier ist trüb und gleicht eher einem morastigen Pfuhl als einem klaren Gebirgssee. Eine Art Atlantis. Nur, dass Priska durch einen versunkenen Wald schwimmt, statt durch eine Stadt unter dem Meer. Immer wieder verheddern sich Moosflechten zwischen ihren Fingern und sie kommt nur langsam voran. Stellenweise ist das Wasser so undurchdringlich wie eine steinerne Wand. Priskas Hand- und Fußgelenke schmerzen. Außerhalb ihres Kopfes halten die Fichtenwurzeln ihre Gliedmaßen nach wie vor fest umklammert. Doch immerhin sind ihre Augen noch unversehrt. Die Tiefe des Sees scheint unendlich und mit jedem Meter wächst der Widerstand. Mit zusammengebissenen Zähnen schiebt sich Priska durch die Wassermassen, doch sie spürt, dass ihre Kräfte schwinden.
Die Sicht wird immer schlechter. Und schließlich taucht sie durch absolute Dunkelheit. Sie folgt nur ihrem Bauchgefühl. Ihr Orientierungssinn hat sie längst verlassen. Den sandigen Grund fühlt sie, bevor sie ihn mit ihren Augen wahrnimmt. Sie gräbt ihre Finger in den Schlamm und tastet sich Stück für Stück vorwärts. Priska weiß nicht, ob sie bereits Stunden oder nur Minuten im Morast ihres Unterbewusstseins verbracht hat, als am Rande ihres Gesichtsfeldes plötzlich ein kleiner Lichtpunkt auftaucht. Kaum hat sie sich jedoch in die Richtung des schwachen Scheins gedreht, nehmen die Strömungen zu und drohen, Priska vom Kurs abzubringen. Vor Ihr steigen mit einem Mal unzählige Luftblasen empor und der sandige Untergrund wird aufgewirbelt. Priska hat das Gefühl, sie befinde sich in einem riesigen Glas mit Brausepulver und der Lichtfleck verschwindet für einen kurzen Augenblick hinter einer Wand aus beigem Schaum. Doch Priska lässt sich nicht beirren. Nun ist sie so weit gekommen. Und egal, wer dieser Dämon auch sein wird. Seine billigen Zaubertricks werden sie nicht aus dem Rennen werfen. Sie spürt ihr Gedankenheer im Rücken. Und als sie ihren nächsten Schwimmzug ausführt, überträgt sie diese Bewegung auf die dunklen Soldaten, die nur auf ihren Einsatz warten. Kurz schießt Priska ein seltsames Bild durch den Kopf. Sie sieht sich selbst inmitten eines dunklen Wasserballetts, das einer grotesken Choreographie folgt und sie gerät für einen Moment ins Wanken. Hat der Dämon ihr diese Vorstellung ins Hirn gepflanzt? Schnell konzentriert sie sich wieder auf ihre Arme und Beine, die auf dieser Ebene ihres Unterbewusstseins frei von Fesseln sind. Noch. Neben ihr durchbrechen abertausende, anderer kräftiger Arme die brodelnde Mauer. Und dann haben sie es geschafft. Auf der anderen Seite ist das Wasser seltsam ruhig und klar.
Der helle Lichtfleck entpuppt sich als Gesicht. Es schimmert wie Perlmutt und ist von androgyner Schönheit. Fein ziselierte Züge. Die weiße Haut durchzogen von muschelähnlichen Ornamenten. In den langen Wimpern hängen winzige, schimmernde Perlen und auf den Wangenknochen haftet glitzernder Staub. Die tiefschwarzen Augen sind auf Priska gerichtet. Sie blicken emotionslos.
»Warum hast du mir nicht gesagt, wer du bist?« Die blassen Lippen bewegen sich nicht. Doch Priska hegt nicht den leisesten Zweifel daran, dass es ihr Gegenüber ist, das da mit ihr kommuniziert. Obgleich der Baumdämon nichts mit dem runzligen, verschrumpelten Gebilde gemein hat, das sie erwartet hat. Während sie über eine passende Antwort nachsinnt, betrachtet sie das Wesen vor sich ein wenig genauer. Nur der Kopf hebt sich deutlich von dem mächtigen Baumstamm ab, mit dem es regelrecht verwachsen zu sein scheint. Dort, wo man normalerweise Haare vermuten würde, sprießen lange, dunkle Wurzeln aus dem bleichen Schädel und schlingen sich um die raue Borke dahinter. Schmale Schultern und ein schmächtiger Torso zeichnen sich unter dem dunklen Holz ab. Arme und Beine kann Priska jedoch nicht erkennen. Falls das Geschöpf über Gliedmaßen verfügt, müssen diese eins sein mit den überdimensionalen Wurzeln, die aus dem Baumstamm und über den sandigen Untergrund kriechen.
Priska spürt instinktiv, dass sie der Kreatur nicht offenbaren darf, dass sie selbst völlig im Dunkeln tappt, was ihre wahre Identität angeht.
»Hätte das denn einen Unterschied gemacht?«, fragt sie daher forsch, obwohl sie innerlich zittert. Inständig hoffe sie darauf, dass sie mit diesen Worten ihre Unwissenheit nicht verraten und sich selbst ins Aus geschossen hat.
»Das fragst du noch?«, erwidert der Dämon. »Glaubst du tatsächlich, ich wäre so töricht, das Abkommen zu gefährden?« Obwohl das auf eine unheimliche Art und Weise anmutige Wesen bisher keinerlei Gefühlsregung gezeigt hat, meint Priska einen Hauch von Argwohn in den dunklen Augen aufblitzen zu sehen. Trotzdem bleibt ihr nicht viel anderes übrig, als die Flucht nach vorn. Insbesondere ihre Sorge um Elena treibt sie an. Dass ihre Tochter, ohne lebenden Beistand, in einem Geisterhaus schläft, welches seinem Namen mehr als gerecht wird, bereitet ihr größeres Unbehagen als der Dämon ihr gegenüber.
»Wovon sprichst du?«, entgegnet sie dem blassen Geschöpf.
»Oh, offenbar bin ich in IHREN Augen so unbedeutend, dass sie mich nicht einmal für erwähnenswert hält.« Ein dumpfes Grollen lässt das Wasser um sie herum vibrieren und die dünnen Lippen des Baumgeistes verziehen sich zu einem grotesken Grinsen, das Priska einen kalten Schauer über den Rücken jagt. ›Von wem zum Geier spricht dieses Ungeheuer‹, denkt sie. Vage erinnert sie sich daran, dass auch Marlene eine ominöse SIE erwähnt hat, als sie Priska vor gar nicht langer Zeit ins Jenseits schicken wollte. »Du und deine Begleiterin – Ihr könnt gehen«, hallt die Stimme ihres Gegenübers in ihrem Kopf. »Es ist kein günstiger Zeitpunkt, um die Zwischenwelt zu durchqueren. Ihr werdet in eine Seelenwanderung geraten. Doch ich muss dir wohl nicht erklären, wie du dich in deiner Heimat zurechtfindest.«
›Welche Heimat‹, liegt es Priska schon auf der Zunge, doch sie beißt sich gerade noch rechtzeitig auf die Lippen. Die Blicke des Dämons wirken plötzlich lauernd. Ein dumpfer Schlag, direkt über Priskas Kopf, lässt sie zusammenzucken. Es klingt, als klopfe jemand hart gegen eine Scheibe. Sie sieht nach oben und weicht im selben Augenblick entsetzt zurück. Über ihr tummeln sich Dutzende der grauen Wassergeister mit den aufgerissenen Mündern. Bleiche Fingerknochen trommeln gegen eine unsichtbare Kuppel, die sich über Priska und den Baumdämon zu wölben scheint. Dort, wo sich einst Augen befunden haben, starren schwarze Löcher, doch Priska fühlt sich dennoch beobachtet. Und bedrängt. Die Geister wollen etwas von ihr. Die Hoffnungslosigkeit ist einem stummen Flehen gewichen. Sie erwarten sich nicht weniger als Erlösung.
»Nein, du darfst mir meine Seelen nicht nehmen«, echot es in Priskas Schädel. Verwirrt blickt sie zurück zu dem Baumwesen. Jedwedes Kalkül ist aus dem berückenden Antlitz verschwunden. Es wirkt mit einem Mal so rein und unschuldig wie das eines Kindes.
»Wer waren diese armen Geschöpfe, bevor sie zu dem wurden, was du aus ihnen gemacht hast?« Es ist ein gefährliches Spiel, auf das sich Priska da einlässt. Sie täte sicher besser daran, schleunigst Land zu gewinnen, aber sie kann diese verzweifelten Geister nicht einfach im Stich lassen. Die feinmodellierten Züge des Dämons sind weich. Und sein Betteln ist ebenso still und inbrünstig wie das seiner Gespenstersklaven.
»Sie haben versucht, sich unbefugt Zutritt zur Zwischenwelt zu verschaffen. Ich bin der Hüter und es ist meine Pflicht, sie aufzuhalten.«
»Indem du ihre Körper tötest und die Seelen gefangen nimmst? Eine sehr grausame Form der Bestrafung.«
»Ja, das mag sein, aber so verlangt es das Gesetz. Und nur so kann ich selbst überleben.«
»Für wie lange sperrst du sie ein?« Im Grunde eine rhetorische Frage, deren Antwort Priska nicht überrascht.
»Für immer.« Einen Augenblick lang hat die Kreatur Mühe, ihre Maske aufrecht zu erhalten und das liebliche Kinderantlitz wird zu einem starren, wächsern wirkenden Puppengesicht. Doch Priska lässt nicht locker. Sie muss wissen, für wen sie ihr Leben, das bereits gerettet schien, riskiert.
»Waren es schlechte Menschen?«
»Was weiß ich?« Der Dämon hätte wohl mit den Schultern gezuckt, wären diese nicht mit dem Stamm verwachsen. »Sie haben entweder den Tod gesucht oder ihn überwinden wollen. So oder so: Sie haben sich nicht an die Regeln gehalten. Und dafür büßen sie jetzt.« Ein ungeduldiger Unterton mischt sich in den monotonen Singsang des Baumgeistes.
»Es gibt keinerlei Hoffnung auf Erlösung?«
»Nein! Weder für sie, noch für mich«, erwidert die Kreatur unwirsch und das Wasser gerät erneut in Aufruhr. Die gefühlskalte Fassade bröckelt. »Ihr Schmerz ist kostbar. Er nährt mich. Bisweilen dauert es hundert Jahre, bis ein weiterer Unbefugter an die Pforte kommt. Ich kann es mir nicht leisten, auch nur einen von ihnen gehen zu lassen. Und selbst wenn: Für welche dieser Seelen würdest du dich entscheiden wollen?«
Priska hebt erneut den Blick und lässt ihn über die inzwischen zahllosen, qualvoll verzerrten Grimassen gleiten. Hinter jeder dieser Fratzen, die entfernt an Edvard Munchs »Schrei« erinnern, verbirgt sich ein menschliches Wesen mit Stärken und Schwächen. Keines von ihnen ist frei von Schuld. Und keines von ihnen ohne Herz. Andernfalls gäbe es keine Schmerzen und keine Nahrung für den Dämon. Priska würde sie alle befreien müssen. Kaum hat sich dieser Gedanke in ihrem Hirn ausgeformt, sammelt sich ihr imaginäres Heer an der unsichtbaren Barriere, die der Baumgeist zwischen ihnen und den grauen Phantomen errichtet hat. Priska ist selbst erstaunt über die Kraft, mit der sich ihre Krieger gegen das unsichtbare Gewölbe stemmen. Es ist so, wie Andreas es ihr prophezeit hat: Jeder Kampf macht sie stärker. Schicht um Schicht wird der Wall abgetragen, der sich um ihren mächtigen Kern schließt. Schon entstehen erste Risse in der Kuppel, durch die sich skelettöse Arme strecken. Zugleich erschüttert ein heftiges Beben das Gewässer. Für einen Augenblick öffnet Priska ihre Augen. Noch immer halten die Fichtenwurzeln sie umschlungen, doch die Felsen um sie herum zittern und wanken. Tiefe Krater ziehen sich durch das alte Gestein und es droht auseinanderzubrechen. Mit schreckgeweiteten Augen hängt Amalia am Rand des Plateaus.
»Was geht hier vor, Priska?«, ruft sie, außer sich vor Angst.
»Direkt unter dir befindet sich ein kleiner Vorsprung, Amalia! Dort kannst du dich mit deinen Füßen abstützen. Wir haben es gleich geschafft!« Priska wartet kurz ab, bis Amalia die kleine Ausbuchtung erreicht hat. Dann begibt sie sich zurück in ihren Kopf.
»Du Heuchlerin!«, empfängt sie der Dämon. Seine schwarzen Augen quellen aus den Höhlen. »Wie kannst du es wagen, das Abkommen zu brechen? IHR Blut fließt durch deine Adern. Du hast weit mehr Seelen auf dem Gewissen als ich!« Priska hat keine Ahnung, wovon die Kreatur spricht. Und es spielt in diesem Moment auch keine Rolle. Wichtig ist nur, dass sie Amalia, die Geister und sich selbst in Sicherheit bringt. Sie konzentriert sich auf ihre Gedankenkrieger, die unermüdlich daran arbeiten, die unsichtbare Hülle zu zerstören. Und sie spürt, wie sich in ihrem Inneren eine ungeheure Druckwelle aufbaut, die sie beinahe selbst zu zerreißen droht. Gleich wird sie sich entladen. Zum ersten Mal zeigt das Baumwesen Anzeichen von Furcht. Priska, die auf allen Vieren in dem schlammigen Grund kniet, fühlt, wie unter ihr die langen Auswüchse des Unterwasserbaums in Bewegung geraten. Riesigen Schlangen gleich wühlen sie sich durch den Sand und bäumen sich mit aller Gewalt nach oben. Doch auf dieser Bewusstseinsebene vermögen sie es nicht, Priskas Gliedmaßen zu umfassen. Fast gelassen beobachtet Priska, wie der Dämon vergeblich versucht, sich aus dem Stamm heraus zu drücken. Die ersten Geister haben es geschafft, zu ihnen durchzudringen. Wie Nebelschwaden umkreisen sie Priska. Sie fühlt ihre pulsierende Energie. Der Dämon öffnet langsam seine Lippen. Doppelte Reihen spitzer Zähne treten zu Tage. Funkelnde, diamantene Dolche. Immer weiter öffnet sich das Maul. Bis es schließlich wie eine gigantische Wunde inmitten des ehemals schönen Gesichts klafft. Eine Wolke schwarzer Tinte strömt aus dem Rachen des Ungeheuers, als es dröhnend ein letztes Mal seine Stimme erhebt: »Ich beglückwünsche dich zu deinem Triumph! Aber freue dich nicht zu früh. Die Anderen warten bereits. Wenn sie deiner nicht habhaft werden können, dann holen sie sich deine Brut. Und SIE? SIE bekommt immer, was sie will.« Das Lachen des Dämons ist voller Hohn, doch nur von kurz Dauer. Priskas Wut und die Angst um Elena lassen den Druck in ihrem Inneren unerträglich werden. Als der Feuerball sich in Form einer gigantischen Explosion den Weg aus ihrem Körper bahnt, hat Priska das Gefühl, selbst in tausend Stücke gerissen zu werden.
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