Von jung und angejahrt in Wort und Bild

Am Anfang war Lila: Kapitel 7

Antermoia

Der beschönigende Filter ist verschwunden. Und mit ihm all die lärmenden, lachenden Menschen – bunte Luftballons in der einen und ihre Kinder an der anderen Hand. Verflogen, der köstliche Duft von gebrannten Mandeln. Die Musik hat längst aufgehört zu spielen. Nur der Nebel ist geblieben und sogar noch dichter geworden. Priska sieht kaum mehr die Hand vor Augen.

Einzelne verwaiste Fahrgeschäfte tauchen, düsteren Skulpturen gleich, erst dann unvermittelt aus dem grauen Nichts an die sichtbare Oberfläche, wenn Priska schon fast mit ihnen kollidiert.

Wie eine fremdartige Kreatur aus einer anderen Welt reckt ihr der Krake seine Fangarme entgegen. Die Gondeln sind leer und doch hallen in Priskas Ohren die kreischenden Schreie vom vergangenen Tage nach.

»Wie lange willst Du da noch rumstehen und versuchen, Löcher in den Nebel zu starren«, hört sie auf einmal eine leise Stimme hinter sich. Sie klingt seltsam vertraut und zugleich so, als würde ihr Besitzer sich an einem fernab gelegenen Ort befinden und durch die Sprechmuschel eines altersschwachen Telefons mit ihr kommunizieren.

Priska fährt herum. Er wartet im Kettenkarussell auf sie. Seine flackernde Gestalt wird von einem eigenartig lumineszierenden Schein umspielt.

»Was ist mit Dir? Du flimmerst wie ein schlecht übertragenes Fernsehbild.« Priska schwirren unzählige Fragen im Kopf umher. Dies ist die erste, die den Weg auf ihre Zunge findet, welche sich eigenartig fremd anfühlt.

»Es ist alles so unwirklich«, murmelt sie. »Bin ich wach oder träume ich?«

»Du kannst auch in Träumen wach sein«, antwortet Ranieri. Sein Lächeln spürt sie mehr, als dass sie es mit den Augen wahrnimmt. »Und zu Deiner ersten Frage: Du siehst mich in meiner jetzigen Gestalt. Im Traum vom alten Haus hast Du nur eine Erinnerung von mir mit eingeflochten. Gerade begegnen wir uns wirklich. Du träumst, aber ich bin echt.«

»Das verstehe ich nicht.« Ranieri spricht in Rätseln. Statt ihre Fragen zu beantworten, wirft er neue auf. Sie fühlt sich furchtbar müde und ausgelaugt. Es ist ihr, als stehe sie am Eingang eines mit unzähligen Fallen gespickten Labyrinths. Der Boden schwankt unter ihren Füßen und sie hat kaum die Kraft, sich aufrecht zu halten. Woher soll sie die Energie nehmen, sich durch diesen Irrgarten zu kämpfen?

»Wenn Du leben willst, bleibt Dir keine Wahl.« Ranieri klingt ungeduldig. »Komm endlich. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Du wirst bald aufwachen.«

Er streckt ihr seine durchscheinende Hand entgegen. Eine Geste, die nur symbolisch gemeint sein kann. Priska ist sich sicher, dass ihre Finger ins Leere greifen, wenn sie tatsächlich versucht, ihn zu berühren.

»Wer ist Eleonore?« Priska macht ein paar Schritte auf ihn zu, doch sie scheint durch zähen Morast zu waten. Es dauert eine Ewigkeit, auch nur in seine Nähe zu kommen.

»Du wirst es herausfinden, wenn Du mich begleitest. Erklärungen kosten zuviel Zeit. Besser, ich zeige es Dir.«

»Was willst Du mir zeigen?« Priska kann ihre Ungeduld kaum verbergen.

»Alles. Aber dazu bedarf es mehr als diesen einen Traum.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass Du Dich früher je so kryptisch ausgedrückt hättest.« Priska flüchtet sich in ihren Alltagssarkasmus. Er hilft ihr, bei Verstand zu bleiben. Es spielt keine Rolle, ob sie schläft. Nicht nur der siebte Sinn, sondern auch alle übrigen signalisieren ihr, dass real ist, was sie gerade erlebt. Eine andere Wirklichkeit als ihre gewohnte, aber nicht weniger echt.

Inzwischen hat sie Ranieri erreicht. Noch immer hält er ihr seine Rechte entgegen und provoziert Priskas Berührung nahezu. Nun denn. Forsch taucht sie mit ihren Fingern in das flackernde Abbild von Ranieris Hand ein und hat im selben Augenblick das Gefühl, als würde er sie mit einem Defibrillator attackieren. Zusammen mit dem elektrischen Schlag jagt eine Welle von Liebe und Schmerz durch ihren Körper. Sie weiß nicht, ob es sich hierbei um ihre eigenen Gefühle oder die ihres ehemaligen Geliebten handelt. Sein durchdringender Blick geht ihr durch Mark und Bein und es dauert einen Moment, bis sie erkennt, warum er plötzlich so präsent ist: Ranieris Gestalt wirkt nicht länger wie eine lose zusammenhängende Masse unzähliger flimmernder Partikel. Die Konturen werden von Sekunde zu Sekunde klarer und die transparente Nachbildung seines Körpers weicht zunehmend einem Menschen aus Fleisch und Blut. Zumindest scheint es so. Ranieri ist tot und seine Leib längst zu Knochen und Staub zerfallen. Eine diffuse Traurigkeit erfasst sie.

Zugleich registriert sie erstaunt, dass er nicht jünger wirkt als sie selbst. »Können Geister altern?« Die letzten Worte hat sie laut ausgesprochen. Wobei auch das nebensächlich sein muss. Sie träumt und all dies spielt sich in ihrem Kopf ab. Ranieri entspringt und sitzt in ihrem Unterbewusstsein. Oder nicht?

»Eine Seele hält nichts von Chronologie. Mal bin ich 20, dann 5 und kurz darauf 80. Und bisweilen entsprechen mein Alter und mein Erscheinungsbild tatsächlich den Jahren, die ich auf dieser Erde weile. Lebendig und tot.«

Priska schüttelt verwirrt den Kopf. Ihre Gedanken sind laut und wirr und verschmelzen zu einer grässlichen Kakophonie.

Sie fühlt sich seltsam schwach und beinahe bewegungsunfähig. Als hätte sie eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt. Und sie wundert sich, dass Ranieris Anblick ihr Herz nicht hüpfen lässt. Vielmehr stolpert es orientierungslos vor sich hin. In den letzten Minuten hat eine eigenartige Umkehrung stattgefunden. Inzwischen hat Priska mehr mit einem ätherischen Wesen gemein als der Geist ihr gegenüber. Lediglich das lumineszierende Leuchten, das ihn nach wie vor umgibt, verrät, was er ist.

»Ich habe mir ein wenig Energie von Dir geborgt. So kann ich mich manifestieren.« Ranieris spitzbübisches Lächeln erinnert sie an früher und verleitet ihr Herz jetzt doch zu einem kleinen Hopser.

»Da hast Du Dir genau die Richtige ausgesucht. Ich weiß ja sonst gar nicht, wohin mit meiner ganzen Kraft.« Kaum haben die Worte ihren Mund verlassen, fängt sie schon an zu straucheln. Ranieri ergreift ihren Ellenbogen und stützt sie. Nun vermag er es. Mit ihrer eigenen Energie, die er ihr entzogen hat. Irgendwie absurd. Strenggenommen hält sie sich selbst. Seine Berührung ist nicht menschlich. Sie gleicht eher einer tosenden Welle, die ihren Arm emporhebt.

»Wir müssen jetzt wirklich aufbrechen.« Er führt sie zum Kettenkarusell. Priska kann sich seinem energetischen Sog kaum widersetzen. Trotzdem versucht sie es:

»Mich bringen keine zehn Pferde mehr in dieses Höllending!«

»Nein, aber ich.« Mit Hilfe ihrer Lebenskraft scheint er seinen Humor wiedergefunden zu haben.

Dann aber bemerkt er offenbar die Panik in Priskas Augen:

»Im Traum wirst Du nicht sterben. Im Gegenteil: Die Träume sind der Schlüssel zu Deiner Macht.«

»Du könntest auch chinesisch sprechen. Ich verstehe immer weniger.«

»Herrgott nochmal. Jetzt steig endlich ein!«

Widerstrebend nimmt Priska neben ihm Platz. Sie kann nicht verhindern, dass ihre Gedanken zum vergangenen Nachmittag zurückkehren.

»Ist Elena ebenfalls in Gefahr?« Sie muss diese Frage stellen. Auch wenn sie fast erwartet, dass Ranieris Antwort keine sein wird.

»Vorerst nicht. Sie will Dich.« Rainieris Miene wirkt undurchdringlich.

»Die schwarze Frau.« Priska ist sich sicher, obgleich diese Schlussfolgerung jeglicher Logik entbehrt. Außer in ihren Träumen ist sie jener ominösen, furchteinflößenden Person, beziehungsweise dem, was von ihr übrig ist, noch nie begegnet.

»Ja,« entgegnet Ranieri schlicht. »Dennoch ist sie nur ein kleiner Bauer im Schachspiel Deines Lebens.«

»Und welche Figur steckt in Dir? Ein Springer?« Priskas Geduldsfaden ist kurz vorm Reißen. Wer denkt Ranieri, dass er ist? Das Orakel von Delphi?

»Könnte hinkommen.« Er lächelt schief und Priska weiß nicht, ob seine Erwiderung sich auf ihre Worte oder ihre Gedanken bezieht.

Das Karussell beginnt, sich zu drehen. Priska schließt die Augen und versucht krampfhaft, das Déjà-Vu, welches sich ihr buchstäblich aufzwingt, ebenso gewaltsam aus ihren Gedanken zu verbannen.

Bald verliert sie die Bodenhaftung und schwebt mit Ranieri durch endloses, graues Nichts. So viele Fragen liegen ihr auf der Zunge. Doch es macht keinen Sinn, sie zu stellen. Sie muss die Antworten offensichtlich selbst finden. Ranieri vergrößert ihre Verwirrung nur. Die Gedanken in ihrem Kopf drängeln, schubsen und stapeln sich. Ihr Hirn ist so voll, dass es genauso gut gähnend leer sein könnte. Der Schlüssel zu ihrer Macht muss wahrlich gut versteckt sein. Sie lacht leise auf. Bisher fühlt sie sich mehr als hilflos. Kurz zuckt sie zusammen, als sie an ihrer linken Hand einen leichten, elektrischen Schlag verspürt. Es ist Ranieri, der sie mit seinen Fingern gestreift hat. Seine Augen erinnern sie in diesem Moment nicht an den Karer-, sondern an einen viel entlegeneren Bergsee. Das Wasser klar und von einem atemberaubenden Blau, doch ohne Leben. Kein einziger Fisch wohnt im Antermoia See.

Es wird kälter und die Luft dünner. Priska muss sich anstrengen, um ausreichend Sauerstoff in ihre Lungen zu pumpen. Und das, obwohl sie träumt. Grotesk. Ranieri beobachtet sie. Auf seiner Stirn zeigt sich die altbekannte Sorgenfalte.

»Wir müssen uns beeilen.« Die Stimme ihres Begleiters klingt angespannt.

Der Nebel lichtet sich und Priska erkennt, dass sie über einer bleichen Mondlandschaft schweben. Zackige Felsen drohen ihr die Fußsohlen aufzuschneiden, als das Karussell allmählich langsamer wird und sie sich dem Boden nähern. Instinktiv zieht sie ihre Beine an. Neben ihr ertönt leises Lachen.

»Deine Träume sind derzeit der einzige sichere Ort für Dich, Priska. Vertrau mir!« Ranieri klingt wie sie selbst, wenn sie versucht, ihrer Tochter klar zu machen, dass sie auch ohne Aufsatz nicht in die Kloschüssel fallen wird.

Ihr ist ein wenig schwindelig zumute, als sie aus dem Sitz gleitet. Sie steht auf weißem Geröll. Kalkgestein. Sie hebt ihren Blick und ihre Vermutung wird zur Gewissheit. Sie befinden sich in den Hinterhöfen des Rosengartens. Wilde, ungezähmte Gebirgsschönheit, die nichts gemein hat mit den sanften grünen Hügeln im bayerischen Voralpenland. Hinter den schroffen Felstürmen erheben sich unzählige weitere Bergkuppen und inmitten dieses überwältigenden Panoramas ragt der schneebedeckte Gipfel der Marmolata in den hellblauen Himmel.

Priska spürt, wie eine Träne über ihre Wange rinnt und sie fängt den salzigen Tropfen mit der Zunge auf. Zu Hause. Das Summen in ihrem Kopf ist verstummt. Ihre Gedanken haben sich gebündelt und die Botschaft ist eindeutig: Hier hat die Reise begonnen und hier wird sie enden.

Ranieri steht neben ihr. Die Umgebung hat ihn noch weiter aufblühen lassen. Er wirkt lebendig. Sein Blick schwelgt wie ihrer in der hinreißenden Bergkulisse. Bittersüße Schwermut liegt über ihnen wie zuvor der Nebelschleier. Schweigend nehmen sie zur Kenntnis, wo sie sich befinden. An der Schwelle zwischen Traum und Wirklichkeit, Leben und Tod.

»Du weißt, was hinter uns ist,« durchbricht Ranieri schließlich die Stille.

»Ja.« Priska sieht den magischen See vor ihrem inneren Auge und ein Abbild davon in Ranieris Augen.

»Wir müssen dorthin. Wenn es wahr ist, was sie sich erzählen, kann sie uns helfen.«

»Wer?« Der Zauber, von dem Priska sich soeben noch umhüllt fühlte, ist verflogen. Willkommen in Runde zwei von »munteres Rätselraten mit dem Gespensterfreund.«

Ranieri schmunzelt, doch sie ist sich noch immer nicht sicher, ob er über telepathische Fähigkeiten verfügt. »Kennst Du die Sage, die sich um dieses Gewässer rankt?«

Priska überlegt: »Meinst Du die Geschichte mit Oskar von Wolkenstein und dem Wasserwesen, das eins mit dem See wurde, nachdem er es laut beim Namen genannt hatte?«

»Ja, so ähnlich, aber ohne Oskar von Wolkenstein.«

Sie schnaubt. »Hättest Du die Güte, mir zu erklären, worauf Du hinauswillst?«

»Die alte ladinische Legende besagt, dass die Gana, die in diesem See wohnt, all jene, die sie verraten, mit einem schrecklichen Fluch belegt. Ist sie einem jedoch wohlgesonnen, erhält man Gaben von unendlichem Wert. Sie war schon da, als es begonnen hat. Gut möglich, dass sie etwas weiß.«

»Du denkst, dass die Sage wahr ist? Dass es wirklich eine Gana gibt, die in diesem See lebt?« In den vergangenen Tagen ist Priska mit so vielen Ungeheuerlichkeiten konfrontiert worden, dass sie bereits eine gewisse Routine im Umgang mit fantastischen Neuigkeiten entwickelt hat. Dennoch fragt sie sich zum wiederholten Male, ob ihr nun endgültig die Sicherungen durchbrennen. Geister, fliegende Karusselle, Wassernymphen. Hat sie die langfristigen Nebenwirkungen der Schlaftabletten unterschätzt oder sind es die Entzugserscheinungen, die sie jetzt auf einen psychedelischen Trip durch ihre Traumwelt schicken?

»Ja, in allen Legenden steckt zumindest ein Körnchen Wahrheit. Welches, werden wir herausfinden müssen.« Mit diesen Worten macht sich Ranieri auf in Richtung See.

Priska folgt im widerstrebend. »Und wie willst Du sie herbeirufen? Dürfen wir sie überhaupt mit ihrem Namen ansprechen oder werden wir dann sofort verflucht?«

»Sich über sie lustig zu machen, ist sicherlich nicht die richtige Herangehensweise, soviel kann ich Dir versichern.«

»Mag sein, aber das ist keine Antwort auf meine Frage. Heißt sie tatsächlich so wie der See? Dessen Name ist aber doch in aller Munde und schon seit Ewigkeiten kein Geheimnis mehr.«

In diesem Moment wird Priska bewusst, dass sie den Namen zuletzt »gedacht« hat, kurz, nachdem sie vom Rummelplatz aufgebrochen sind. Ausgesprochen haben ihn bisher weder sie noch Ranieri. Als hätten sie ein stilles Abkommen getroffen.

»Sie wird uns hoffentlich erklären, was es mit dem Verrat auf sich hat, bevor wir ihn versehentlich begangen haben. Einstweilen passen wir einfach auf, dass uns der Name nicht herausrutscht, obwohl ich, genau wie Du, denke, dass es keine Rolle spielt.« Für einen Geist legt Ranieri einen erstaunlichen Pragmatismus an den Tag.

Sie befinden sich an der letzten Biegung. Noch ein paar Schritte und der verwunschene See wird, wie aus dem Nichts, vor ihnen auftauchen. Obwohl Priska der Anblick wohlvertraut ist, überwältigt er sie jedes Mal von Neuem. Einem riesigen Aquamarin gleich liegt das kristallblaue Gewässer in der kargen Landschaft. Umgeben von schroffen, bleichen Felsen, die sich in der glatten Oberfläche spiegeln. Ein zauberhaftes Schatten- und Farbenspiel. Von Weitem hat es den Anschein, als sei der See von weißem Sand eingerahmt. Tatsächlich aber handelt es sich um hartes, spitzes Geröll. Sie sind zu einem Zeitpunkt gekommen, da der See reich an Wasser ist. In den Sommermonaten zieht er sich zu einer überdimensionalen Pfütze zusammen.

»Keine Wassernymphe weit und breit. Ich bin schon gespannt auf Deine Beschwörungsformel.« Priska lässt sich am Ufer nieder und malt mit dem Zeigefinger Kreise in das eiskalte Wasser.

Ranieri setzt sich neben sie. »Da muss ich Dich enttäuschen, Priska. Nicht ich werde sie herbeirufen, sondern Du.«

»Und wie soll ich das anstellen? Ich weiß noch nicht einmal, ob ich daran glauben soll, dass sie existiert.« Priskas Wasserringe werden wilder. Sie ist völlig überfordert. Ranieri verlangt eindeutig zu viel von ihr.

»Für den Anfang wäre es sicherlich nicht verkehrt, wenn Du Deinem Hirn eine Sendepause erteilst und Dich auf Dein Herz konzentrierst. Du bist ja noch verkrampfter als früher.«

»Na, schönen Dank auch,« knurrt Priska. Ihr Zeigefinger, der weiterhin wie ferngesteuert im aufgewühlten Nass rührt, ist inzwischen stark gerötet. Bald wird er blau werden. Trotzdem kann sie nicht aufhören mit dieser sinnfreien Betätigung. Auch ohne die Kälte des Wassers würde sie frieren. Hier oben, auf 2.700 Höhenmetern, weht ein eisiger Wind. An die reine, aber dünne Luft hat sie sich allerdings wieder rasch gewöhnt. Sie atmet tief ein. Erinnerungen an frühere Aufenthalte hier oben streifen sie. Doch das Gefühl von Freiheit, welches sie in dieser märchenhaften Einöde immer verspürte, bleibt aus.

Eine leise Melodie bahnt sich hartnäckig ihren Weg aus dem Verborgenen, hinein in Priskas Herz und Bewusstsein. Ein Lied, das ihr die Mutter häufig vor dem Zubettgehen vorgesungen hat. Einmal mussten sie, nicht weit von hier, in einer Schutzhütte übernachten, weil sie es nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit ins Tal geschafft hätten. An jenem Abend sangen sie das Lied zusammen in Endlosschleife. Noch heute wundert sie sich darüber, dass gerade dieses düstere, wenig kindgerechte Gesangsstück im Gute-Nacht-Lieder-Repertoire ihrer Mutter ganz oben rangierte.

»Tilil kommt mit der Nacht,

nimm dich in Acht,

vor ihrer dunklen Macht.

Wen sie auserwählt,

dessen Tage sind gezählt

Hör auf die Gespenster

dort draußen,

am verborgenen Fenster

Schlaf ein, mein Kind,

schlaf ein,

denn Träume können Deine Rettung sein.«

Erst jetzt bemerkt sie, dass sie laut gesungen hat. Ranieri beobachtet sie aufmerksam und ein wenig verwundert, wie ihr scheint. Doch er sagt nichts.

Kleine Wellen schwappen gegen Priskas Zeigefinger, der schon beinahe taub ist. Überrascht blickt Priska auf. In der Mitte des Sees hat sich ein eigenartiger Wirbel gebildet. Ein mannshoher Tornado aus Wasser. So sieht es jedenfalls aus. Gerade eben noch war der See ein glatter Spiegel. Nun aber ist alles in Bewegung und jeder einzelne Wassertropfen hat offenbar ein Eigenleben entwickelt.

Verblüfft sehen Priska und Ranieri zu, wie sich aus der wirbelnden Wassersäule, die rasch näherkommt, allmählich eine weibliche Gestalt herauskristallisiert. Ihr langes Haar ist von so hellem Blond, das es fast weiß wirkt. Einem Schleier gleich umweht es ihr schmales, blasses Antlitz. Hüftabwärts bauschen sich weite Röcke, die mit den wogenden Wellen verschmelzen. Eisblaue Augen richten sich auf Priska:

»Klänge, die ich schon lange nicht mehr vernommen habe. Der alte Pakt ist noch nicht erfüllt, wie es scheint.« Ihre Stimme klingt und schwingt wie klirrendes Glas.

»Es gibt die Nixe also wirklich,« flüstert Priska ungläubig.

»Ich bin keine Nixe.« Das dunkle Lachen, das aus dem tiefsten Inneren des Wasserwesens zu dringen scheint, passt nicht zu der feingliedrigen Gestalt, welcher, nüchtern betrachtet, der Resonanzkörper fehlt, um ihre Stimme derart dröhnen zu lassen.

»Sie ist ein Dämon,« ergänzt Ranieri in seltsam ruhigem Tonfall. Falls er durch ihre Erscheinung eingeschüchtert ist, lässt er es sich zumindest nicht anmerken.

Nun ist sie so nah, dass Priska sie berühren könnte, würde sie den Arm nach ihr ausstrecken. Stattdessen hat sie ihre halb erfrorene Hand längst aus dem kalten Nass zurückgezogen. Waren die Augen nicht eben noch so blau wie der See? Jetzt sind sie so schwarz, dass nicht einmal mehr die Pupillen zu erkennen sind. Ihre Haare bündeln sich zu Strängen und erinnern an die Schlangen am Haupt der Medusa. Ihre mädchenhafte Anmut weicht einer furchterregenden, düsteren Schönheit.

»Wir brauchen Deine Hilfe,« wendet sich Ranieri abermals an das seltsame Geschöpf.

»Wieso sollte ich Euch helfen wollen?«

»Vielleicht können wir etwas gegen Deinen Bann unternehmen. Ich glaube, wir kämpfen auf der gleichen Seite.«

Dass sie sich im Krieg befinden, ist an Priska völlig vorbeigegangen. Doch dies scheint weder der richtige Ort, noch der richtige Zeitpunkt zu sein, um Ranieri wegen seiner lapidar geäußerten Feststellung, die deshalb nicht weniger ungeheuerlich wirkt, zur Rede zu stellen.

»Bist Du Tilil?« Sie stellt der Dämonin die erstbeste Frage, die ihr in den Sinn kommt. Ranieris warnenden Blick ignoriert sie geflissentlich.

»Nein.« Der Groll in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. «Auch nicht Antermoia. Mein Name tut nichts zur Sache. Besser, Ihr erfahrt ihn nicht.«

Die Gana dreht derweilen den Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen sind. Ein einsamer Wanderer steigt humpelnd den Pfad zum See hinab. Als sei das ganze Szenario nicht bereits surrealistisch genug. Noch kann er sie nicht sehen.

»Zunächst müsst ihr die Wahnsinnige und ihre Schergen loswerden. Dann sucht Ihr mich erneut auf. Aber nicht im Traum.« Die Dämonin hat es plötzlich eilig. Offensichtlich ist sie nicht erpicht auf ein größeres Publikum. Während ihre grazile Gestalt mit den tosenden Wassermassen verschmilzt, ruft sie Priska und Ranieri zu: »Erzählt niemandem von mir! Ihr wisst, was dann geschieht.«

Ihre Worte hallen noch nach, doch der See ist wieder ruhig. Nicht die kleinste Welle kräuselt seine ebene Oberfläche.

»Bitte hilf mir,« hört Priska da den Wanderer flehen. »Ich habe mir den Fuß verletzt. Kannst Du mich bis zur nächsten Schutzhütte begleiten?« Der Mann ist unscheinbar und seine Kluft altmodisch. Er steuert direkt auf Priska zu. Von Ranieri nimmt er keine Notiz. Die Gana konnte ihn sehen, dieser Geselle aber offensichtlich nicht. Als Priska Ranieri betrachtet, fällt ihr auf, dass sein Erscheinungsbild transparenter geworden ist.

»Bitte!« Der Mann hat Priska inzwischen erreicht. »Mein Bein schmerzt sehr. Trägst Du meine Kraxen* für mich?«

Priska fühlt sich überrumpelt. Sie erinnert sich daran, dass dies ein Traum ist und sie keinen Dienst an einem anderen Menschen verweigert, wenn sie dem Mann nicht hilft. Außerdem war er erstaunlich schnell bei ihnen angelangt – trotz seines verletzten Fußes.

Priska blickt hilfesuchend zu Ranieri hinüber, doch der scheint nur gespannt abzuwarten.

Unvermittelt legt der Wanderer Priska eine Hand auf die Schulter. »Bitte, gute Frau!« Der Arm des Mannes ist seltsam schwer und scheint sekündlich an Gewicht zuzunehmen. Die Last drückt Priska förmlich nieder. Außerdem steht er viel zu dicht bei ihr. Seine Präsenz ist lähmend und beklemmend. Priska ringt nach Luft und ihrer Fassung.

Der Wanderer verzieht den Mund zu einem Lächeln. Doch es ist kein freundliches Lächeln. Vielmehr ein hämisches Grinsen. Seine braunen Augen funkeln. Hinter den Fenstern zur Seele lodert ein wildes Feuer, das nur darauf wartet, sie zu verschlingen.

Priskas Herz rast. Ihr wird schwindelig und die Umgebung verschwimmt vor ihren Augen. Der eigenartige Wandersmann und Ranieri scheinen mit einem Mal sehr weit weg zu sein.

»Priska! Du kannst ihn hier und jetzt besiegen,« hört sie Ranieri rufen. »Du darfst noch nicht aufwachen!«

Und doch tut sie genau das.

Kurz, bevor sie zu sich kommt, spürt sie, dass der Druck auf ihrer Brust nachlässt. Als sie die Augen aufschlägt, sieht sie einen gekrümmten, dunklen Schatten an der Zimmerdecke. Mit spinnenartigen Bewegungen huscht er davon.

*Rückentrage

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2 Kommentare

  1. Jutta Wölk

    Was ich bisher gelesen habe, gefällt mir ausgesprochen gut und macht mich sehr neugierig darauf, wie es weiter geht.
    Schön mystisch, teilweise unheimlich und spannend geschrieben. Recht bildhaft beschrieben, sodass ich die Handlung vor meinem geistigen Auge verfolgen konnte.

    Ich freue mich auf das nächste Kapitel.

    Liebe Grüße Jutta

    • Federfarbenfee

      Liebe Jutta, vielen Dank für Dein Lob! Solche Worte freuen und motivieren mich ungemein! Herzliche Grüße zurück – wir lesen uns! 🙂 Marianne

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