Von jung und angejahrt in Wort und Bild

Am Anfang war Lila: Prolog

»Nun geh! Und denke stets daran: Was ich ersehne, ist bereits mein. Brich diesen Pakt und ich werde Dich und die Deinen heimsuchen. Ich werde nicht ruhen, ehe Ihr alle der Dunkelheit anheimgefallen seid.«

Ihre betörende Stimme, die ihn eben noch schmeichelnd umhüllte wie kostbare Seide, rauschte in seinen Ohren. Binnen Augenblicken schwoll sie zu einem gewaltigen Tosen an. Er taumelte und stolperte unbeholfen einige Schritte zurück.

War dies dasselbe Weib, welches sich kurz zuvor warm in seine Arme geschmiegt und ihn in einen nie gekannten Garten Eden entführt hatte? Vergeblich suchte er nach einem Rest von Güte in den amethystfarbenen Augen. Doch ihr Blick war hart und bohrte sich einem Eiszapfen gleich in sein schutzloses Herz.

Der frostige Wind gewann an Stärke. Wie abertausend winzige Klingen schnitten die umherwirbelnden Schneekristalle in Johanns Wangen. Atemberaubend schön und tödlich zugleich. Wie die anmutige Gestalt vor ihm, die allmählich hinter dem dichten, weißen Vorhang verschwand.

Das Brausen in seinen Gehörgängen verebbte. Allgegenwärtig war nun stattdessen das Heulen des Sturmes, der drohend an Johanns Kleidern riss. Er meinte, sie noch leise lachen zu hören. Dann war sie fort.

Er schüttelte sich und versuchte krampfhaft, nicht weiter über ihre verstörenden Worte nachzusinnen. Er musste zusehen, dass er vom Berg herunterkam. Der Abstieg führte über einige ausgesetzte Stellen und schon jetzt konnte er kaum noch erkennen, wohin er seinen nächsten Schritt setzen sollte.

Der Wald wurde lichter. Johann wappnete sich und trat hinaus auf die freie Fläche. Ungebremst donnerte die Sturmwand auf ihn zu und hob ihn fast von den Füßen. Mit all seiner Kraft stemmte sich Johann ihr entgegen. Nur wenige Handbreit trennten ihn von dem todbringenden, im Schneegestöber verborgenen Abgrund.

Unwillkürlich fragte er sich, ob sie ihn wohl ein weiteres Mal aus einer misslichen Lage befreien würde.

In diesem Moment spürte er, dass er nicht länger allein war. Er hob den Kopf und versuchte, durch den Flockenwirbel hindurchzublicken. Der Wind peitschte ihm jäh ins Gesicht. Eilig zog er seinen wollenen Umhanges fester um sich und bemühte sich, seine Augen zu schützen, so gut es ging. Wenn er zu allem Übel auch noch schneeblind würde, wäre er verloren.

Als er wieder aufblickte, setzte sein Herzschlag aus. Ein Stück vor ihm stand ein junges Mädchen. Fast noch ein Kind. Ihr Antlitz war jedoch kaum zu erkennen.

Langes, strähniges Haar, seltsam unberührt vom wütenden Sturm, umhüllte ihr Haupt wie ein dunkler Schleier. Sie war lediglich mit einem dünnen, weißen Hemd bekleidet, welches ihre fahlen Extremitäten nur unzureichend bedeckte und wie ein weiter Sack an ihrem ausgemergelten Körper hing.

Sie machte einen Schritt auf Johann zu und streckte dabei ihre blassen Arme nach ihm aus. Panisch versuchte er, ihr auszuweichen und verlor kurz den Halt. Der Schnee gab nach und sein rechter Fuß rutschte auf den Abhang zu. In letzter Sekunde fand er sein Gleichgewicht wieder.

»Wer bist Du«, krächzte er.

Sein Herz hämmerte gegen seine Brust, als wolle es herausspringen.

Das Mädchen antwortete nicht.

Doch nun, da es näher gekommen war, konnte er einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Trotz ihres jugendlichen Alters war die Haut ihrer Wangen ohne jegliche Farbe und spannte über den Wangenknochen. Die schwarzen Augen lagen in tiefen Höhlen und blickten starr durch ihn hindurch. Obwohl sie sich in seine Richtung bewegte, schien sie ihn nicht wahrzunehmen.

Barfuß tappte sie über die Schneedecke. Entweder verwehte der Wind ihre Spuren augenblicklich oder sie hinterließ keine.

In diesem Moment bemerkte Johann, dass noch etwas Anderes nicht stimmte: Während er selbst unablässig nebelige Rauchwolken ausstieß, die kurze Zeit später vom Wind davon getragen wurden, kondensierte ihr Atem nicht an der kalten Luft.

Wie war das möglich?

Im Grunde gab es nur eine einzige Erklärung:

Sie atmete nicht.

Johann wurde flau im Magen. War er dabei, den Verstand zu verlieren? Er hatte nie an Geister geglaubt. Auch die unzähligen Mythen, die sich um die Dolomiten rankten, entlockten ihm höchstens ein abfälliges Lächeln. Solche Märchen waren etwas für Narren und geschwätzige Weibsbilder.

Doch er konnte nicht leugnen, dass das Kind, das sich gerade stoisch auf ihn zubewegte, mehr einem Gespenst glich denn einem Menschen aus Fleisch und Blut.

Zitternd wich er abermals einige Schritte zurück und fragte sich, ob sein letztes Stündlein geschlagen habe. Hier, auf dem Berg. Bedroht von einem gewaltigen Schneesturm und fremdartigen Mächten, die er nicht zu greifen vermochte.

Johann wusste nicht, ob es an dem Schneegestöber lag, doch er hatte den Eindruck, dass die Mädchengestalt hin und wieder flackerte – wie eine Kerzenflamme auf der Suche nach neuer Nahrung. Zudem wirkte ihr Gang stockend und sprunghaft.  Im einen Moment war sie noch einen halben Meter entfernt, im nächsten stand sie direkt vor ihm.

Kaum hatte er dies gedacht, da machte sie wieder einen Satz auf ihn zu. Nun trennten sie nur noch wenige Zentimeter von Johann. Ihre unheimliche Präsenz lähmte ihn. Ein unsichtbarer Sog schien von ihr auszugehen. Er spürte, wie er  schwächer wurde. Als entziehe ihm das bleiche Kind seine ganze Lebenskraft. Wie festgewurzelt stand er da und blickte entsetzt auf das flimmernde Antlitz, dessen leblose Konturen mit jeder Sekunde klarer wurden.

Dennoch verschwammen ihre Gesichtszüge vor Johanns Augen. Ein eigenartiger Schwindel erfasste ihn und er spürte, wie ihm das Gefühl für Raum und Zeit und seinen eigenen Körper entglitt. Nicht einmal die Kälte nahm er noch wahr. Es gab nur ihn und das seltsame Mädchen. Der Schneesturm schien sich mit dem Geisterwesen verbündet zu haben. Sie befanden sich inmitten eines weißen Wirbels, der sich mit rasender Geschwindigkeit um sie drehte. Johann merkte, wie sich eine bleierne Schwere und Gleichgültigkeit auf ihn herabsenkte und er wollte nur noch eines: In einen tiefen, traumlosen Schlaf fallen.

»Jetzt hat es endlich ein Ende.«

Die Worte waren nur ein Wispern. Sie schwebten von den blassen Lippen des Mädchens und blieben in der Luft hängen. Von allen Seiten schienen sie Johann einzukreisen.

Der Sog verstärkte sich – und er dachte, sein Innerstes würde in zwei Hälften geteilt, als das Mädchen durch ihn hindurchglitt, um sich, begleitet vom hallenden Echo eines gellenden Schreis, den Abhang hinunter zu stürzen.

Völlig orientierungslos und starr vor Angst blickte Johann auf die Stelle, an der das Mädchen soeben verschwunden war.

»Nur eine Erscheinung. Der klägliche Schatten einer Erinnerung. Gefangen im Augenblick eines tragischen Todes. Weitaus weniger gefährlich als SIE, die der Grund hierfür ist.«

Johann wandte sich ruckartig um, doch da war niemand.

»Dies traurige Mädchen soll Dir eine Warnung sein«, fuhr die unsichtbare Stimme eindringlich fort. Obgleich sie körperlos zu sein schien, übertönte sie das Heulen des Windes.

»Du kannst IHR nicht entrinnen. Hat SIE erst einmal ihre Klauen in Dich geschlagen, gehörst Du ihr. Besser Du tust, was SIE verlangt. Denn glaube mir: Es gibt Schlimmeres als den Tod.«

Die letzten Worte ließen Johanns Kopf dröhnen. Heerscharen von Nerven schienen zu vibrieren, als sich jene Drohung unauslöschlich in seinem Gehirn verankerte.

Dann war es still.

Johann lauschte angespannt, doch die Stimme war verstummt.

Er wunderte sich, dass er noch am Leben war. Die Erlebnisse des heutigen Tages reichten weit über das Fassungsvermögen seines menschlichen Verstandes hinaus.

Angst und Verwirrung machten es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Doch sein Überlebensinstinkt trieb ihn dazu, den Abstieg fortzusetzen.

Kurz bevor er das Ende der Lichtung erreicht hatte, löste sich ein Schatten aus der Dunkelheit des Fichtenwaldes vor ihm.

Das tote Mädchen schritt langsam auf ihn zu.

Johann schauderte und er fragte sich, wie oft sie diesen, ihren letzten Weg, wohl bereits hinter sich gebracht hatte.

Nächstes Kapitel

3 Kommentare

  1. Federfarbenfee

    Der Übersichtlichkeit halber habe ich mich dazu entschlossen, Kapitel, die weit in der Vergangenheit liegen, zu datieren. Noch bin ich unschlüssig, wie ich bei den Episoden, die in der Gegenwart und in den letzten 30 Jahren spielen, vorgehe. Da sich Traum- und reale Welt hier oft vermischen, würde es der Geschichte ein wenig von ihrem Zauber nehmen, wenn ich Eingangs jedes Mal gleich ein Datum hinklatsche.

  2. Claudia

    Liebe Federfarbenfee,

    keine Ahnung, wie oft ich mir vorgenommen habe, Deinen Blogroman zu lesen und es dann doch wieder vergessen habe :D.

    Nun habe ich aber doch tatsächlich angefangen, und der Prolog macht richtig Lust auf mehr, schön mysteriös und super geschrieben! Ich bin schon sehr gespannt auf die weiteren Teile und werde ab und an in den Kommentaren etwas von mir hören lassen 🙂

    Liebe Grüße

    Claudia

    • Federfarbenfee

      Liebe Claudia,

      wie schön! 🙂 Ich freue mich sehr über deinen Besuch in meiner bescheidenen Bloghütte und darüber, dass du dir meinen Roman „vorknöpfst“. 😉 Bin schon sehr gespannt auf dein Feedback! Vielen Dank für dein Lob, den Prolog anbetreffend. Das motiviert mich ungemein, zumal der Prolog eigentlich, neben Kapitel 2, mein Sorgenkind ist. Könnte für meinen Geschmack noch etwas mehr „fetzen“.

      Nun wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen und schon mal einen guten Rutsch in ein gesundes, glückliches und erfolgreiches Jahr 2017!

      Herzliche Grüße zurück von
      Mary

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