Goethes „Erlkönig“ ist eines dieser Gedichte, die mich schon als kleines Mädchen in ihren Bann gezogen und nie wieder losgelassen haben. Gleichwohl, wie oft dieses Gedicht in den vergangenen Jahrhunderten rezitiert und teils auch verhunzt wurde, ist seine magische Wirkung auf mich nie verblasst. Sie ist derart intensiv, dass ich es nicht wage, die Worte hier niederzuschreiben. Nicht nur, wenn der Nebel aufzieht, muss ich an diese furchteinflößende, gespenstische Gestalt des Elfenkönigs und an den armen Knaben denken, der in des Vaters Armen hätte sicher und geborgen sein müssen und es doch nicht war.
Als ich vor einigen Tagen mit M., meinen Kindern und Eltern – das klingt irgendwie eigenartig, als wären wir in Heerscharen unterwegs gewesen, in der Einöde nahe ihres Gehöfts spazieren ging, stellte ich mir zum wiederholten Male die Frage, warum diese Ballade mich nach wie vor im Innersten berührt. Um uns herum waberte der Nebel. Bäume und Sträucher erschienen aus dem Nichts und streckten ihre dürren Arme nach uns aus. Ja, selbst der mobile Schießstand des Jägers verwandelte sich in eine dunkle, rätselhafte Kreatur. Eine schaurig-schöne Atmosphäre, welcher jedoch nichts Bedrohliches anhaftete. Wahrscheinlich, weil wir uns, umgeben von unseren Lieben, behütet fühlten.
Urvertrauen seitens Eltern und Kindern – beschützen zu können und beschützt zu werden. Ohne diese Zuversicht, dass wir mit unserer Liebe den meisten Widrigkeiten, die uns auflauern, zu trotzen vermögen, würde die Angst jeden Glücksmoment im Keim ersticken.
Es ist das Recht der Kinder, darauf bauen zu können, dass sie bei den Eltern in Sicherheit sind. Aufgeschlagene Knie, Monster unter dem Bett und fiese Mitschüler – Hauptsache, es gibt eine Zuflucht. Die bei Vater und Mutter. Wenn sie uns in den Armen wiegen, dürfen wir daran glauben, dass alles gut wird.
Der Eltern sehnlichstes Bestreben ist es, ihre Kinder vor allem Unheil zu bewahren. Der Bauch besteht darauf. Auch wenn der Kopf es besser weiß.
Mit dem „Erlkönig“ erschüttert Goethe dieses empfindliche Gefüge aus Vertrauen, Glaube und Hoffnung. Schonungslos hält er uns vor Augen, dass dieser allumfassende Schutz nur in unseren Wünschen existiert. Gleich, ob es Fieberträume, magische oder reale Gestalten waren, die den Knaben dem Vater entrissen haben – er konnte ihn nicht retten. Hatte er zu lange weggesehen? Wäre er sonst vielleicht in der Lage gewesen, um sein Kind zu kämpfen und den Sieg davonzutragen?
Manchmal jedoch schweigt mein Denkapparat, wenn ich dem Gedicht wieder einmal begegne. Dann hallen die magischen, kraftvollen Worte um so deutlicher in meinem Kopf wider. Beklemmend und zugleich verzaubernd. Ambivalente Schönheit.
Im Gespräch mit einer engen Vertrauten, die mir derart nahe steht, dass ich sie tatsächlich als meine Seelenschwester bezeichne, kamen wir auf die Liebe zu unseren Kindern zu sprechen und auf unsere Angst, alte Fehler zu wiederholen und neue zu begehen.
Ich hatte das Bedürfnis, ihr und mir die Gefühle gegenüber meinen Töchtern zu erklären, sie einfach mal in Worte zu fassen. „Man liebt seine Kinder alle gleich stark, aber auf unterschiedliche Weise“. Dieser Satz wird oft bemüht. Nicht umsonst. Denn es steckt viel Wahres in ihm.
Meine Erstgeborene, das Eiliensche, ist eher ausgeglichen denn aufbrausend und schlägt in dieser Hinsicht nach ihrem Vater. Sie ist ein empfindsamer und introvertierter Mensch. Ihre Gedanken gibt sie nie dann preis, wenn ich sie danach frage, sondern eher verschleiert in einem Nebensatz oder als Teil einer Geschichte. Mit ihren Liebesbekundungen allerdings geht sie nicht sparsam um und dafür bin ich dankbar. Sie hat überhaupt ein großes Herz, das mit jedem mitfühlt, der es nötig hat. Gestern Abend war der Bedürftige ihre Schwester. Das Ämmale wird derzeit von der dritten Erkältung in Folge gebeutelt – und hat es auch nicht versäumt, die immunschwache Mutter ebenfalls mit ihren Viren zu beglücken, doch das ist ein anderes Thema. Jedenfalls kam unser schnupfen- und hustengeplagtes Baby einfach nicht zur Ruhe und brüllte sich das heisere Stimmchen aus dem Leib. Das Eiliensche bestand dennoch darauf, dass die kleine Meckerziege, wie sie ihre Schwester liebevoll nennt, neben ihr nächtigte, obwohl sie dadurch zunächst selbst nicht in den Schlaf finden konnte. Als sie versuchte, das Ämmale in das Reich der Träume zu singen und zu streicheln, hätte ich zerfließen können vor Liebe. Unser Verhältnis ist ein sehr inniges. Wenn ich in ihre rehbrauen Augen schaue – verspiegelte Fenster zu ihrer feinfühligen, aber weitestgehend unergründlichen Seele, stelle ich immer wieder fest, dass sie nicht ich ist. Was ich durchaus begrüßenswert finde. Mit ihren 3 Jahren verfügt sie bereits über eine ausgeprägte und sehr selbstbestimmte Persönlichkeit. Es gibt Knotenpunkte, an denen unsere Charaktereigenschaften sich treffen und verknüpfen. So sind wir beide sehr empfänglich für Bücher, Bilder und Stimmungen und verfügen über eine rege Phantasie. Die Krisenbewältigung könnte beim Eiliensche und bei mir allerdings nicht unterschiedlicher sein. Das Eiliensche ist äusserst harmoniebedürftig. Sollte es mal mit mir durchgehen und ich einen Brüllerer loslassen, wie heute zuletzt geschehen, trifft sie das im Mark. Dabei galt mein Schrei nicht einmal ihr, sondern dem Ämmale, welches solche Lautäußerungen zwar registriert, dabei aber nicht einmal mit der Wimper zuckt. Oder alternativ einfach zurückplärrt. Dafür überhört das Eiliensche gerne unliebsame Anfragen. Sie schaltet dann regelrecht auf Durchzug, womit wiederum ich persönlich nicht umgehen kann.
Das Naturell meiner jüngeren Tochter, die heute 11 Monate alt geworden ist, ähnelt dem meinem dagegen in fast erschreckender Art und Weise. Es fühlt sich an, als sei das Ämmale noch immer ein Teil von mir, so sehr gleichen wir uns in unserem Temperament und in unserem Talent, wenig diplomatisch alles niederzumähen, was uns gerade nicht in den Kram passt. Genauer gesagt, ist das Ämmale eine Urversion von mir. Ich selbst bin mittlerweile überangepasst und verhalte mich oft nahezu konträr zu meiner ursprünglichen Wesensart. Jedenfalls kann ich schwierige Situationen mit dem Ämmale oft intuitiver handeln. Zum Einen, weil ich mich gut in sie hineinversetzen kann, zum Anderen, weil sie ein extrovertierter Typ ist und schon dafür sorgt, dass alle Welt stante pede von ihren Bedürfnissen erfährt. In ihrer ungeschliffenen, charmant-rohen Art zieht sie entweder alle in den Bann oder walzt wie ein Bulldozer über Hindernisse hinweg. Wenn diese kleine Cholerikerin allerdings richtig loslegt, vermag sie eine Seite in mir anzustimmen, von der ich gedacht habe, dass ich sie längst unschädlich gemacht hätte. Noch ist sie ein Baby. Aber man darf es mir nicht verübeln, wenn ich mit Bangen in die Zukunft blicke und mir dabei lieber nicht allzu genau ausmale, wie oft das Ämmale und ich da noch aneinanderrauschen werde. Ich liebe sie ebenso heiss und innig wie mein Eiliensche, aber meine Gefühle dem Ämmale gegenüber sind ungestümer.
Das Eiliensche ist ein See, in dem man sich entspannen und auf sanften Wellen schaukeln kann, sich dabei aber fragt, was in der Tiefe dieses Gewässers noch alles verborgen ist. Das Ämmale ist ein reißender Fluß, der einen in kürzester Zeit an atemberaubende und zauberhafte Orte führt, so denn man den bisweilen sehr unvorhergesehenen Strudeln und Strömungen stand zu halten vermag.
Es ist in der Tat so, dass mich das Ämmale und meine eigene Blödheit schon eine ganze Weile über meine persönlichen Grenzen hinausbringen.
Ich kann nicht mehr sagen, der wievielte Infekt es ist, der mich derzeit wieder am Wickel hat. Seit meiner zweiten Schwangerschaft bin ich eigentlich permanent krank, von tageweisen Unterbrechungen abgesehen. Mit all diesen Gebrechen habe ich mein altes Tagebuch schon zur Genüge gequält. Deshalb möchte ich an dieser Stelle lediglich als Randnotiz vermerken, dass ich inzwischen wirklich Angst habe, meinen Geruchssinn endgültig zu verlieren. Daher werde ich kommenden Montag mit dem HNO meines Vertrauens nun doch über die Option einer kompletten Nasennebenhöhlensanierung nachdenken.
In einer halben Stunde ist Weihnachten. Trotz meiner Unpässlichkeiten habe ich es mir nicht nehmen lassen, Vanillekipferl und Lebkuchen zu backen. Die mir um ein Haar alle verkokelt wären, weil ich weder den heißgeliebten Duft von köstlichen Plätzchen wahrnehme, noch den entsprechenden Brandgeruch, wenn sie bereits zu lange im Ofen weilen. Morgen machen wir einen klassischen Entenbraten mit Blaukraut und Knödeln. Eines meiner Leibgerichte. Und wie schon letztes Jahr zu Weihnachten, werde ich nichts schmecken, außer süß und salzig. Das stimmt mich depressiv. Ich gebe es unumwunden zu.
Ich ahnte bereits vorgestern Früh, wohin mich die Aufreger dieses Tages letztendlich bringen würden. Los ging es damit, dass ich für das Eiliensche die Kindergartensachen zusammenpackte und mir dabei siedendheiß einfiel, dass wie die gefütterte Matschhose nach unserem Spaziergang im Nebel im Auto gelassen hatten. Und wo war das Auto? M. war damit natürlich ins Büro gefahren. Nicht weiter wild. Schließlich sind wir zum Glück noch im Besitz einer zweiten Matschhose. Zwar nicht so warm wie die mit Fleece ausstaffierte, aber das war an diesem theoretischen Wintertag, der tatsächlich eher einen auf Frühling machte, auch nicht zwingend erforderlich. Als das Eliensche dann auf der Treppe saß, fiel uns gleichzeitig auf, dass ihre Schuhe fehlten. Tja, auch die hatten wir im Auto deponiert, da sie vor Dreck starrten und wir vermeiden wollten, dass das Eiliensche auf dem Rücksitz ein Matschgemälde hinterläßt. Kurz war ich ratlos, weil wir meist nur ein Paar Schuhe pro Saison für das Eiliensche kaufen. Wächst sie doch in Windeseile aus den Tretern raus. Aber was sahen meine übermüdeten Augen da hinten im Eck so fröhlich-orange leuchten? Ach ja, die Gummistiefel. Unsere Rettung. Innerlich klopfte ich mir bereits auf die Schulter angesichts meines ungeahnten Improvisationstalents. Ich klemmte mir das quengelnde Ämmale unter den Arm und öffnete schwungvoll die Haustüre, um sie schnellstmöglich in den Kinderwagen zu bugsieren. Aber Halt. Wo war der Kinderwagen? Im Auto natürlich. Wenn wir nicht alle schon in voller Montur vor der Tür gestanden wären, hätte ich den Kindergarten für diesen Tag gecancelt. So aber schleppte ich das Ämmale, das nicht nur 11 Monate alt, sondern auch 11 Kilo schwer ist, in Auferbietung meiner letzten Kräfte, die von der beinahe schlaflosen Nacht noch übrig waren, auf dem Arm mit zum Kindergarten. Und die Pumpe ging nicht nur deshalb auf 180, sondern auch, weil das Eiliensche um mich herumhüpfte wie ein kleiner Floh, der gleich das Weite sucht. Viermal musste ich diesen beschwerlichen Weg mit dem Ämmale antreten. Hin und zurück und Mittags das gleiche Spiel. Und ich Wahnsinnige gab dann auch noch dem Wunsch des Eliensche nach einem Vollbad nach, dem sich das Ämmale natürlich ohne zu Zögern anschloss, aber trotz ausgiebigen Planschens im Anschluss nicht schlafen wollte. Ich war fix und alle. Kein Wunder, dass die bösen Viren diese Schwachstelle sofort erkannten und für sich nutzten.
Es ist 23.59Uhr.
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Und jetzt 00.00Uhr – allen Lesern frohe Weihnachten!!
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