Da bin ich einmal in hundert Jahren ohne Kinder unterwegs. Es dauert einen Moment, bis ich vom „Alles-aus-dem-Weg-in-5min-hat-das-Baby-seine-Breze-zerhäckselt-und-das-Kleinkind-will-sein-Stuntfraupotential-an-supermarkteigenen-Requisiten-austesten“-Modus in eine etwas groovigere Gangart gewechselt habe. Dann aber genieße ich beinahe andächtig die Stille vor dem Joghurtregal und die Freiheit, mir tatsächlich vorher anzusehen, was ich kaufe, ohne dass der eine kleine Wicht „Schau mal, Mami“-rufend mit dem größten Kinderhasser im ganzen Laden kollidiert und der andere, noch kleinere Wicht mir halbverdauten Brezenbrei auf die Hand spuckt , während er bzw. sie fast einen Köpfer aus dem Einkaufswagen macht. Ich zelebriere sie förmlich, diese Dreiviertelstunde Auszeit, obgleich ich mir zum Seele baumeln lassen natürlich auch eine weitaus adäquatere Umgebung vorstellen könnte – wie etwa ein Fünf-Sterne-Wellnesshotel am Meer. Mein Handy brummt. Zunächst bin ich nicht gewillt, dem Störenfried meine Aufmerksamkeit zu schenken. Vielleicht ist es aber ein SOS von meinem Mann, der noch eine Tafel Vollmilchschokolade mit ganzen Haselnüssen braucht, um den heutigen Abend zu überleben. Es ist tatsächlich M. Via Whatsapp lässt er mir folgende, knapp aber präzise formulierte Botschaft zukommen: „Das Ämmale hat zwei Schritte gemacht.“ War ja klar: Kaum ist Muttern aus dem Haus, fängt das Kind zu laufen an. Und mindestens genauso logisch ist, dass sie seit ihren ersten Gehversuche quasi in Schockstarre verfallen ist.
Auf jeden Fall ist dieser Entwicklungsschritt ein sehr einschneidender. Ähnlich wie beim Eiliensche damals, ist dieser weitere Zugewinn an Mobilität beim Ämmale nun auch an eine immense Trennungsangst gekoppelt. Die einschlägige Fachliteratur weist darauf hin, dass das Mutter Natur eigentlich sehr schlau eingerichtet hat. Kaum können die Kinder davonlaufen, wollen sie es nicht mehr. Oder so ähnlich. Eine Art Sicherheitsvorkehrung. In dieser neuerwachten Anhänglichkeit mit inbegriffen ist, dass das Ämmale von jetzt auf gleich keine Minute mehr alleine schlafen will. Weder Tags noch Nachts. Mit dem Eiliensche haben wir das damals so praktiziert, dass wir Abends tatsächlich in Schichten neben unserer Tochter ruhten – M. schlafend, ich wachend. Mittags habe ich mich zusammen mit dem Eiliensche hingelegt und dabei im Kopf am Plot für meine Geschichte gefeilt. Das ist aber mit zwei Kindern nicht mehr umsetzbar. Das Eiliensche denkt nicht im Traum daran (haha), sich tagsüber aufs Ohr zu hauen. Folglich schläft das Ämmale derzeit noch weniger als sonst. Nicht nur der Entwicklungsschub, sondern auch die Zähne und die aktuelle Erkältung machen ihr zu schaffen. Wobei ich gar nicht sagen kann, wann der eine Infekt sich aus dem Staub macht und der nächste kommt. Die Erkältungen gehen, seitdem die große Schwester im Kindergarten ist, fließend ineinander über – im wahrsten Wortsinne: Es ist immer wieder erstaunlich, wieviel Rotz so eine winzige Babynase zu produzieren in der Lage ist.
Zu allem Überfluss wurde Muttern dann heute Morgen durch eine Migräneattacke ausgeknockt, die sich gewaschen hat. Mörderische Kopfschmerzen, starke Übelkeit verbunden mit dem Drang, alles kurz und klein zu kotzen, steifer Nacken, wirre Sternchen von der unfreundlichen Sorte vor den Augen. M. musste daher den Tag heute kurzerhand zum Überstundenabbau nutzen. Ich war so gut wie bewegungsunfähig. Inzwischen konnte ich das Schädelweh mit 1600mg Ibuprofen auf ein erträgliches Niveau herabsenken. Bis das Ämmale wieder stillt, ist aber noch ein Weilchen hin und vielleicht lassen dann mit der ibu-angereicherten Muttermilch ihre Zahnschmerzen auch ein wenig nach. Jetzt, in dieser Stunde, machen M. und das Ämmale gemeinsam Besorgungen und Eiliensche weilt noch im Kindergarten. Und ich Bekloppte malträtiere die Tastatur, als gäbe es kein Morgen. Aber wer weiss, wann sich wieder die Gelegenheit bietet. Carpe momentum!
Bevor das Ämmale mit M. losgezischt ist, hatte sie trotz aller sie triezenden Widrigkeiten einen überaus herzlichen Lachanfall. Regelrecht geschüttelt hat es den gar nicht mehr so kleinen Babykörper. Und wenn wir genau hinhören, können wir schon ihre Mädchenstimme in dem Jauchzen erahnen. Sie klingt nicht mehr ausschließlich nach Säugling.
Heute Nacht um Drei treffen M. und ich uns im Bad. Er zeigt auf den überwältigend klaren Sternenhimmel. Ein Meer aus hellen Flämmchen erleuchtet das schwarzblaue Firmament. Wir stellen uns in inniger Umarmung unter das schräge Badfenster, staunen und küssen uns. Elternromantik.
Wo ich nun schon angefangen habe, von Entwicklungsfortschritten zu schreiben, kann ich da auch gleich weitermachen. Allerdings mit mangelhafter Eloquenz, da das Ämmale mir inzwischen wieder Gesellschaft leistet und um mich herumgurkt. Auffällig ist, dass meine zweite Tochter den Fokus ganz eindeutig auf die Motorik richtet, wohingegen mein Eiliensche damals verbissen daran arbeitete, sich mit Worten mitzuteilen zu können. Das Eiliensche ist mit 14 Monaten ohne Hilfe gelaufen, hatte aber, als es so alt war wie das Ämmale jetzt, bereits ein beachtliches Repertoire an verständlichen Worten. Meine Zweitgeborene macht mit 10 Monaten ihre ersten freien Schritte, dafür beschränkt sich ihr Wortschatz auf „Mama, Papa, da, des, aio (hallo) und bu (Buch).“ Versteht mich nicht falsch. Diese Beobachtungen sind völlig wertfrei. Ich finde es nur sehr faszinierend, wie sehr die eigene Persönlichkeit schon in diesem jungen Alter die Entwicklung beeinflusst. Natürlich gibt es auch Gemeinsamkeiten. Beide Schwestern sind zum Beispiel gleichermaßen schlechte Schläfer. Mit der fleischgewordenen Insomnia als Mutter ist das auch nicht weiter verwunderlich.
Wie beim Eiliensche damals stehen beim Ämmale derzeit Schubladen, Lichtschalter, Fernbedienungen, Telefone, Bälle und all jenes hoch im Kurs, das nach dem Minimaxprinzip mit dem geringsten Aufwand den größten Dreck macht.
Beide Kinder lieben Musik und Tanz. Immer. Tatsächlich lässt sich mittels einiger Durchgänge „Dornröschen war ein schönes Kind“ – selbstredend untermalt durch die entsprechende Gestik, oft eine mittlere Katastrophe abwenden. Ich bin kein guter Ratgeber in Sachen Kindererziehung, aber das ist bei uns tatsächlich eine der effektivsten Strategien zur häuslichen Krisenbewältigung: Musik an, Grimassen schneidend, singend oder auch gerne nur Stimmübungen ala „brrrrrrrrrrrrrrrrrrr, lalalalala, bäääääähhhhh“ durchführend, wild im Kreis herumhüpfen und danach eine Runde durchkitzeln. Und schon ist die Deeskalation eingeleitet. Meistens.
Neben Singen und Tanzen zählen Malen und Rollenspiele zu den Lieblingsbeschäftigungen meiner „großen“ Tochter. Ich weiß, dass es aus pädagogischer Sicht äußerst begrüßenswert ist, wenn Kinder sich für Rollenspiele begeistern. Trotzdem sträubt sich in mir alles, wenn ich zum 50. Mal „Vater-Mutter-Kind“ oder „Elsa verwundet Anna mit einem Eisblitz“ oder „Playmobilkinder fallen wie Fliegen von der Rutsche und brechen sich sämtliche Knochen“ spielen soll. Gestern war es wieder irgendwann soweit, dass ich bei dem Satz „Da. Du bist die Zessin (Prinzessin)“ schreiend hätte davonlaufen mögen und es einfach nicht über mich brachte, die dargebotene Stoffpuppe an mich zu nehmen. Eben in diesem Moment kam mein Baby des Weges gekrabbelt und niemand kann meinem Eiliensche vorwerfen, es wäre nicht flexibel genug, das Beste aus einer Situation zu machen. Sie setzte dem verdutzten Ämmale einen zur Krone umfunktionierten Rasselring auf den Kopf und beschied: „Das Ämmale ist jetzt der Königsohn.“ Also, ich kann über so etwas lachen. Nicht nur aus Erleichterung darüber, dass der Kelch diesmal an mir vorbeigegangen ist und sich die Tendenz abzeichnet, dass das Eiliensche über kurz oder lang ein anderes Opfer für ihre Rollenspiele gefunden haben wird.
Da dieser Eintrag zugleich eine persönliche Tagebuchnotiz ist, möchte ich ein Thema nicht unerwähnt lassen. Ich werde es allerdings nur anreissen, da wegen ähnlicher Kundgebungen in der Öffentlichkeit so manche Eltern-Kind-Beziehung schon einen ordentlichen Knacks abbekommen haben soll und das will ich nicht riskieren. Daher sei lediglich kurz angemerkt, dass das Eiliensche noch immer passionierte Windelträgerin ist. Als Mutter sehe ich mich im Schützengraben zwischen zwei feindlichen Lagern. Die einen rufen mir zu, mein Kind wisse selbst, wann es soweit sei und ich solle bloß nichts forcieren. Das könne gravierende (Spät)folgen haben. Die Anderen schütteln entsetzt den Kopf und vertreten den Standpunkt „Von nichts kommt nichts“. Fakt ist, dass bisher alle liebevollen Versuche, die Toilette schmackhaft und die Windel madig zu machen, fehlgeschlagen sind. Bilder mit von bunten Stickern gepflasterten Rennstrecken, Klositze in allen Ausführungen (mit und ohne Treppe, mit und ohne Mickey Mouse), ein sprechendes Klo und diverse Bilderbücher über „Moritz Moppelpo“, „Herrn Kacks und das Pi“ sowie dem „Klokönig“ zeugen davon. Wie gesagt, möchte ich diesen Punkt hier nicht weiter vertiefen. Ich glaube fest daran, dass das Eiliensche spätestens dann die Windel ablegt, wenn ihre kleine Schwester trocken ist. Das ist nicht sarkastisch gemeint. Mit dem Schnuller hat es auch so funktioniert. Kaum hat das Eiliensche mitbekommen, dass das Ämmale den Didi angewidert ausspuckt, war er auch für meine Große passé.
So, jetzt muss ich M. aus den Fängen des Zeter und Mordio schreienden Babys erretten. Am Montag wird er froh sein, ins Büro flüchten zu können. Am Dienstag dann wird er sich nur sehr vage daran erinnern, dass der Alltag mit kleinen Kindern kein immerwährendes Kaffeekränzchen ist.
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